Von weird bis spicy: Genreansichten

Von weird bis spicy: Genreansichten

3. März 2024 2 Von FragmentAnsichten

Weird Fiction, Cozy Fantasy, Faerieporn, Biopunk und was sonst noch so ein Ding ist oder sein könnte.

In den letzten Jahren habe ich im Januar stets einen Blick auf die Szenethemen und -diskussionen der vorangegangenen Monate geworfen. 2023 sind mir allerdings keine wirklich übergreifenden Diskussionen über den Weg gelaufen, eher ein paar Inseldebatten und Fortführungen von Vorherigem. Ein Grund dafür könnte die Dezentralisierung von Social Media sein: Twitter/X hat seine Macht als mitunter hitzigen Austauschs- und Informationskern für die Phantastikszene verloren, heute machen die einzelnen Communitys in Foren und sonstigen Netzwerken wieder mehr unter sich aus. Andererseits will ich nicht ausschließen, dass es eine persönliche Sache ist, und schlicht ich seit meiner eigenen Abkehr von Twitter nicht mehr allesTM mitbekomme. Immerhin bin ich schon an einem Punkt angekommen, an dem ich mir von anderen die Non-Mentions erklären lassen muss, wenn die Kommentare zu Booktok-Skandälchen auf Instagram eintrudeln. Trotzdem, es bleibt der Eindruck einer Übergangssituation, wie es Ralf von SF-Lit ähnlich schon für 2022 beschrieben hatte. Es gibt ja auch szeneextern wahrlich genug zu verarbeiten.

Nichtsdestotrotz[1] meine ich ein paar „inhaltliche“ Trends und Subgenres ausgemacht zu haben. Und wenngleich das Jahr nun schon recht fortgeschritten ist – momentan brauchen meine Ideen für Blogposts einen langen Atem –, will ich darauf doch wenigstens kurz noch eingehen. Wobei es sich hierbei um subjektive Einschätzungen handelt, ich habe keine Statistiken zu Neuerscheinungen oder Postings erstellt.[2]

Beobachtung Nr. 1 betrifft die weird fiction und ist direkt ein wenig ambivalent. Zunächst mal will ich hier nicht von einem Comeback sprechen, denn weg war sie nie. In Deutschland gab es mit VISIONARIUM sogar ein eigenes Magazin und das White Train-Imprint Nighttrain ist ebenfalls auf Weird Fiction spezialisiert. Auch das IF-Jahrbuch 2020 hatte einen entsprechenden Schwerpunkt. Es blieb aber immer ein Thema für Kenner, und als in der Podcast-Sonderfolge „Genderswapped meets Queer*Welten“ das Gespräch auf Weird Fictionkam, sagte ich noch, dass selbst China Miéville hierzulande eher Nische geblieben sei. Einerseits ist das immer noch meine Meinung. Andererseits habe ich den Eindruck, dass diese Nische in den letzten Monaten gewachsen ist. Immerhin fand im Literaturforum des Brecht-Hauses Berlin ein entsprechender Themenabend statt und TOR Online brachte mit einem überarbeiteten Text von Tobias Reckermann aus 2018 („Weird Fiction – New Weird – Next Weird: eine Renaissance“) kurz darauf ebenfalls noch mal die weirden Spielarten aufs Tableau.[3] Zudem erreichen experimentelle Bücher wie „Verlorene der Zeiten“ heute eine Mainstream-Leserschaft – auch wenn die gerade hierzulande nicht immer mit Verständnis auf „Unübliches“ reagiert, siehe z. B. manche Rezension zum „Ministerium der Zukunft“.

Meine Einschätzung ist, dass die Weird Fiction ein Bedürfnis nach Progression bedient, ohne sich dabei auf eine bestimmte Richtung oder ethische Normen festlegen zu müssen. Sie will mehr, bleibt aber ein flexibler Container, der sich beliebig anpassen lässt. In Solarpunk-Diskussionen taucht der Ruf nach mehr weirdness entsprechend ebenso auf wie in den cozy-Spielarten (hier unter dem Begriff sweetweird), und international finden sich ohnehin längst Varianten wie z. B. die Finnish Weird. Judith Madera brachte die New Weird und deren Anpassbarkeit im Januar ebenfalls in einem Beitrag über Genregrenzen und -mixe zur Sprache. Außerdem ist es die Art von Phantastik, von der man guten Gewissens sagen kann, sie zu mögen, ohne dass das Gegenüber direkt an Elfen und Pew-pew denkt. Weird Fiction, das ist fast schon Magischer Realismus, sehr feuilletontauglich.

In der FAZ von der Liebe zu Conan zu schwärmen, könnte dagegen schwieriger sein.[4] Aber damit siedeln wir elegant zur Sword & Sorcery über, der ich im letzten Jahr Aufwind prophezeit hatte.

Ich bin unschlüssig, ob ich damit Recht behalten habe. Das New-Edge-Movement scheint mir außerhalb des namensgebenden Magazins jedenfalls nicht besonders diskutiert zu sein und hierzulande ist im Grunde eh noch die größte Frage, wie wir nun das Verhältnis zur Low Fantasy interpretieren.[5] Mit Christian Endres‘ „Die Prinzessinnen“ ist eine (weitere) deutschsprachige Reihe angelaufen, die bewusst Sword-&-Sorcery-Traditionen ins Hier und Jetzt bringt, und generell spielen „kleine“ Geschichten in großen Welten wieder eine größere Rolle. Insofern, wenn man die Sword & Sorcery als Anderwelt-Gegenspielerin der epischen High Fantasy betrachtet, dann kann man sagen, dass sie an Attraktivität gewonnen hat – immerhin eignet sie sich besser für Alternativen zur derzeit gerne kritisierten Heldenreise (wobei ich die ohnehin nicht mehr als Platzhirsch wahrnehme). Als aktiv beworbenen Trend begegnet mir die Sword & Sorcery aber selten, nicht mal mehr in der Grimdark-Variante, seit die in ihrer Benennungskrise steckt.

Was aber definitiv aktiv beworben wird, ist cozy fantasy bzw. cozy Phantastik – Geschichten also mit einer gemütlichen Atmosphäre, liebenswerten Figuren, schwachen Konflikten und ganz viel found family. Auch hier stehen „kleine Geschichten“ im Vordergrund, aber nicht zwangsläufig im Episodensinne wie bei der Sword & Sorcery, sondern mehr als slice of life (= Alltagsgeschichten quasi). In der Science Fiction haben sicher die Wayfarer-Bücher von Becky Chambers eine cozy Lanze gebrochen, in der Fantasy startete der Trend spätestens 2022 mit Travis Baldrees „Magie und Milchschaum“ und reicht inzwischen bis zu strickenden Vampiren.

In anderen Genres sind solche Cozy-Varianten schon länger ein Thema (z. B. als cozy crime oder cozy romance), aber auch in der Phantastik hat sich der Trend abgezeichnet: Schon Hope– und Solarpunk wurden und werden oft und gerne cozy interpretiert, dazu etwa mit ruraler Cottagecore-Ästhetik und Erzählungen von Freundschaft und Gemeinschaft gekoppelt. Ein älterer Alternativbegriff mit einigen Überschneidungen ist übrigens Light Fantasy.

Hierzulande hat der Verlag Novelarc Cozy Fantasy zu einem seiner Schwerpunkte erklärt, auch Leann Porter bewirbt eines ihrer Bücher („Wünschelbräu Premium“) entsprechend.

Blondes Mädchen fliegt auf einem Pfauendrachen. Im Hintergrund wolkige Berge.
Sieht mir cozy aus: „Peacock Dragon“ von Deevad unter CC BY NC ND 3.0 via DeviantArt

Nicht ganz so cozy geht es hingegen beim faerieporn zu. Ok, ich weiß nicht genau, wie offiziell dieser Begriff ist, und ich rate dringend davon ab, nach ihm in der Schreibweise mit „fairie“ zu googlen, wenn ihr euren Algorithmus nicht über Wochen killen wollt. Was ich meine, ist Romantasy mit Spice. Nein, nicht der Dune-Spice (überhaupt, wo bleibt denn jetzt der Space-Fantasy-Hype? Ich hätte da so ein Buch im Angebot …). Also, Spice meint in den Weiten von Social Media quasi Erotik, im engeren Sinne explizite Erotik. Angefangen hat die Sache einerseits mit dem zunehmenden Einfluss von Fanfiction, andererseits mit Sarah J. Maas‘ „Das Reich der sieben Höfe“. Eine Rolle spielen außerdem die parallelen Siegeszüge von New Adult und Dark Romance. Und klar gab es auch vorher schon explizite Romantasy, selbst außerhalb des ausgewiesenen Erotik- oder Pulpsektors – ich denke da beispielsweise an die Betsy Taylor-Reihe von Mary Janice Davidson. Die Bücher von Maas haben aber eine eigene Subszene hervorgebracht, mit Fantasy-Bällen und Insider-Witzen über Flügelspannweiten. (Ich bin da über Instagramreels in ein Kaninchenloch gefallen und etwas verstört wieder rausgekrochen.)

Über das generelle Wiederaufblühen der Romantasy hat Judith Madera schon im November 2022 einen Beitrag auf TOR Online veröffentlicht. In Sachen faerieporn empfehle ich Emily Bonds entsprechenden Artikel auf Bustle, der mir seinerzeit sehr erhellend war, als mich die ersten verwirrenden Reels erreicht haben.

Interessant finde ich, dass alle genannten Varianten Phantastik reflektieren. Sie tun das auf sehr unterschiedliche Art: Die Weird Fiction verdreht Elemente und ordnet sie neu an. Die aktuelle Sword & Sorcery interpretiert Stereotype für einen neuen Zeitgeist. Die Cozy Fantasy schickt klassische Helden teils wortwörtlich in Urlaub oder Rente. Und die spicy Romantasy hinterfragt tropes gleichermaßen wie sie sie auslebt. Genre-Progression und vor allem -Reflexion ist definitiv da – sie zeigt sich nur in sehr unterschiedlichen (und nicht zwangsläufig problemlosen) Gewändern.

Ansonsten: Antiken-Fantasy ist definitiv wieder ein Ding, mal im feministischen („Medusa: Verdammt lebendig“), mal im faerieporn-Retelling („Neon Gods“). Ich warte auf den Tag, an dem in diesem Zuge Sandal- und Godpunk offiziell ihre Renaissance erfahren, aber langsam erreicht dieser Benennungstrend vielleicht doch seine Grenzen.[6] Ich bin auch gespannt, inwiefern sich die aktuelle Interpretation[7] des Neuropunk durchsetzen kann. In wenigen Tagen erscheint bei Weltenruder eine entsprechende Anthologie, aber international taucht der Begriff sporadischer auf, als ich vor zwei Jahren noch erwartet hätte. Andererseits wäre es nicht der erste Punk, der durch eine Anthologie Aufwind erfährt.

Apropos, wer 2024 Punk sagt, ist quasi verpflichtet, noch ein Solar vorzusetzen. Ja, 2023 wurde verdammt viel über ihn geredet, sogar in Tagesmedien. Es gibt spezialisierte Magazine, regelmäßig erscheinen Anthologien, 2023 sind hierzulande zwei explizit als Solarpunk beworbene Novellen veröffentlicht worden („Draußen“ und „Wenn es nicht passiert“), auch von mir gab’s u. a. zwei Vorträge und einen Artikel in der phantastisch! zum literarischen Gedeihen des Solarpunk. Ich denke auch nicht, dass es das gewesen ist, im Gegenteil. Allerdings sehe ich Solarpunk momentan eher als Maker-Bewegung, die sich in den nächsten Jahren weiter ausdifferenzieren und vor allem mit ihrer eigenen Popularität und deren Zweischneidigkeit (Stichwort Kommerzialisierung) auseinandersetzen wird. Die Literatur läuft dabei mit bzw. parallel, wird aber außerhalb spezialisierter Kleinverlage und des Kurztextsektors vornehmlich im Mix mit anderen Spielarten eine Rolle spielen. Z. B. mit Biopunk, der in der Vergangenheit wissenschaftlich viel von Lars Schmeink bearbeitet wurde und u. a. durch Aiki Miras „Neurobiest“ wieder im Gespräch ist.

Damit reicht es dann aber auch an Prophezeiungen, die man mir später um die Ohren werfen kann. Letztlich lasse ich mich überraschen, was sich ergibt. Was haltet ihr für das nächste dicke Ding? Wird sich Dark Academia halten oder bald schon von Green Academia abgelöst werden? Gelingt der High Fantasy der vielbeschworene Sprung vom Bildschirm zurück in die Bücher? Werde ich es emotional verkraften, wenn sich die Antike-Retellings in Celtic-Mythology-Retellings verwandeln? Mal sehen. Für den Moment mache ich mir erst mal Gedanken darüber, ob faerieporn der neue Elfpunk ist. Und ansonsten resümieren wir dann mal 2025 aufs Neue.


[1] Mein Dozent für antike Philosophie sagte mal, „nichtsdestotrotz“ sei kein richtiges Wort und er könne Leute nicht ernst nehmen, die es verwenden. Nichtsdestotrotz verwende ich es und meine Herodot-Seminararbeit hat mir zumindest einen Sommer lang einen Job auf der Bundesgartenschau eingebracht, so!

[2] Ob etwas „im Trend ist“, d. h. ritualisiert besprochen wird, ist für mich ohnehin keine reine Frage der Neuerscheinungen, sondern des Diskurses. Ginge es nur um Marketing, würden wir heute nicht über Solarpunk sprechen. (Und ich rede hauptsächlich vom deutschsprachigen Raum, aber das wird durch den Text denke ich klar.)

[3] Von mir gab es 2019 einen Beitrag zur New Weird. Der sollte (wie alle Subgenre-Beiträge) vornehmlich als erste Einführung dienen und funktioniert als solche hoffentlich. Den Teil zu deutschsprachigen Veröffentlichungen würde ich heute allerdings anders schreiben.

[4] Außer es geht um Militärhunde namens Conan.

[5] Die Debatte lautet: Ist Low Fantasy ein Synonym für Sword & Sorcery oder für „Dieswelt-Fantasy“? Ich hab inzwischen die Theorie, dass die Verwirrung durch die Bedeutungsverschiebung der Urban Fantasy zustandekam.

[6] „Der Punk-Benennungstrend erreicht seine Grenzen“ habe ich in den letzten Jahren glaub ich ungefähr ein Dutzend Mal gesagt and yet, here we are. Vielleicht ist der Punkt eher, dass tendenziell lieber neue Begriffe verwendet anstatt alte mit neuem Leben gefüllt werden.

[7] 2008 machte Neuropunk erstmals die Runde, damals als nihilistische Post-Cyberpunk-Variante. 2018 wurde der Begriff ausgegraben, nun aber mit einem Fokus auf Neurodivergenz und Mental-Health-Themen. Solche umgedeuteten Begriffe sind nicht selten, siehe Grimdark und Low Fantasy, vor allem aber im Mikrogenre-Bereich (z. B. Oceanpunk, Flowerpunk).

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