
Winteransichten 2024
Hugo-Ungereimtheiten, Fake-Reviews, kostenpflichtige Prüfung unverlangter Manuskripte, gute Verkaufszahlen für veredelte Bücher, Erklärungen auf dem Silbertablett u. v. m.
Na, zum Glück ist am 30. Januar noch „Somniscope“ erschienen, sonst nähme es überhand mit den Blogbeiträgen mit Jahresangabe. Wenigstens steht für die Winteransichten eine frische Zahl an …
Aktuell – oder zumindest sechs Tage vorher, wenn ich diesen Absatz schreibe – ist in aller Phantastik-Munde der neueste Skandal um den Hugo-Award. Mir ist das Thema zuerst auf dem Blog von John Scalzi begegnet, zuvor hatte z. B. Cora Buhlert darüber gebloggt, und selbst der Guardian brachte einen Beitrag. Was ist nun aber passiert? Nachdem die diesjährigen Hugos bereits im Oktober im Rahmen des Worldcon in Chengdu (China) vergeben wurden, folgten nun die dazugehörigen Statistiken, die belegen, dass einige Werke und Namen als „not eligible“ („nicht berechtigt“) markiert, also quasi trotz Longlist-Platzierung disqualifiziert wurden. Das gilt für R. F. Kuangs „Babel“, für Xiran Jay Zhao (sino-kanadische*r Autor*in), für Fan-Autor Peter Weimer und eine Sandman-Episode.
Nun ist es offenbar so, dass für die Nominierungen der jeweils ausführende Worldcon verantwortlich ist, in diesem Falle also die Ausrichtenden in Chengdu. Da ansonsten keine Gründe angegeben wurden, weshalb die Betreffenden nicht berechtigt sein sollten, liegt eine Form von Zensur nahe.
Wer noch mehr zum Thema wissen will: Der Beitrag auf Polygon schafft es ganz gut, die verwirrenden Strukturen aufzudröseln und liefert mögliche Erklärungen, warum es gerade diese Titel bzw. Personen getroffen haben könnte. Auf jeden Fall ist das Thema (Stand Jetzt) leider eine Bestätigung einiger im Vorfeld geäußerten Bedenken bezüglich eines chinesischen WorldCon. Und das wirft wiederum ein schwieriges Licht auf kommende WorldCons.
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Die Hugos haben die Skandale aber ja nicht gepachtet, es gab auch sonst viel zu diskutieren in den letzten drei Monaten. Um etwa bei Xiran Jay Zhao zu bleiben: Im Dezember fiel them und anderen Schriftstellenden auf, dass sechs Goodreads-Accounts notorisch 1-Sterne-Reviews für Debütautor*innen vergaben. Recht schnell war klar, dass sich hinter diesen Review-Accounts C. Corrain verbarg, deren erster Roman selbst 2024 beim US-Verlag Del Rey erscheinen sollte. Corrain versuchte noch, die Sache auf eine gewisse „Lilly“ abzuwälzen, einen angeblichen Reylo-Fan, was kurioserweise dazu führte, dass andere Reylo-Fans besagte Lilly als Fake enttarnten, denn so groß ist die Szene nicht, da kennt man sich. Hach ja. O tempora, o mores. Mal muss man das Internet hassen, mal muss man es lieben. Wie auch immer, C. Corrain hat die Sache letztlich gestanden, Verlags- und Agenturverträge wurden gekündigt. Die logische Konsequenz einer ziemlich miesen Aktion. (Gleichwohl wünsche ich Corrain, dass sich das Internet nicht von seiner gnadenlosen Seite des Nimmer-Vergebens-und-Vergessens zeigt.) Mehr Details zum Thema hat Gizmodo auf Lager, und es gibt sogar eine Wikiseite zum Fall.
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Aber wenden wir uns doch mal dem deutschsprachigen Raum zu. Hier kam im November der Ravensburger Verlag auf die Idee, für die Prüfung unangeforderter Manuskripte fortan Geld zu verlangen, und hat gleich Mailadresse und Kontonummer der prüfenden externen Lektorin angefügt. Nach freundlichen Hinweisen, dass das hart an DKZV-Praktiken grenzt und Autor*innen vielleicht mehr als Partner denn als Bittsteller angesehen werden sollten, wurde der entsprechende Text wieder von der Seite genommen, unverlangte Manuskripte dürfen jetzt an eine schön benannte Mailadresse gehen. Na, man kann es ja mal probieren, wa.
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Gibt es auch schöne Nachrichten? Die Verkaufszahlen für Bücher sinken! Ok, das ist keine schöne Nachricht. Aber gute Verkaufszahlen gibt es noch in Sachen Romance und Fantasy, vor allem bei veredelten Büchern, „Fourth Wing“ lässt grüßen. Es ist schon ein Phänomen mit diesem Buch … Ich schaue mir beim Buchhändler meines Vertrauens gerne das Regal mit den Bestellungen an und wie das im letzten halben Jahr gefühlt zu 50 % aus Rebecca Yarros besteht, ist bemerkens- und beneidenswert. (Als Quelle zur Verkaufszahlen-Meldung habe ich eine FAZ-Meldung hinter Paywall im Angebot, ihr könnt aber auch nach dem entsprechenden MSN-Beitrag googeln, dessen Autor sich arg in einer Diener- und Prinzessinnenmetapher verliert.)
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Um aber mal zu wirklich besseren Meldungen zu kommen: In Frankfurt (Main) hat Anfang des Jahres in Nähe zur Kleinmarkthalle Der fantastische Buchladen eröffnet, der sich, Überraschung, auf Phantastik spezialisiert hat. Es handelt sich um ein Projekt von Sandra Thoms, die in der Phantastikszene vor allem als Programmleiterin von Plan9 bekannt sein dürfte. Ich habe mir den Laden letztens mal angeschaut; noch sind nicht alle Bücherlieferungen da und die Regale etwas leer, die Auswahl mit vielen Indie-Titeln gleichwohl vielversprechend. In Zukunft bietet der Laden auch Veranstaltungen an, z. B. einen Science-Fiction-Leseclub, Workshops oder „Afternoon Tea mit Buch“.
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Und sonst so? Tor[.]com (nicht -online) hat seinen Namen in Reactor geändert, was gefühlt etwas spät kommt. Der Seraph hat seine Nominiertenliste für 2024 veröffentlicht. Ein deutsches Phantastik-Wiki ist gestartet. Die TAZ nahm eine Ausstellung in Rom zum Anlass, über die historische Liebe der italienischen Rechten zu Tolkien zu berichten. In der Washington Post stellte George Bass vor, wie Octavia Butlers „Parable of the Sower“ (dt.: „Die Parabel vom Sämann“) viele Probleme der heutigen Zeit vorhergesehen hat. Moira Marquis berichtete auf Lithub über „Cencoring Imagination: Why [US-]Prisons Ban Fantasy and Science Fiction“ (nicht davon irritieren lassen, dass anfangs Esoterik und Fantasy in einem Zuge genannt werden, es ergibt im Verlaufe des Artikels Sinn). Auf Skalpell & Katzenklaue machte sich Peter Schmitt u. a. Gedanken über Rereads (P. S.: unser nächster ist in der Mache, verschiebt sich aber ins Frühjahr) und über Helen Ley bzw. deren Pseudonym Eleanor Scott.
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Das ist ein perfekter Übergang zu Aiki Miras auf TOR Online veröffentlichten Beitrag zu James Triptee Jr. und „Pseudonymen als Befreiungstechnologie„. Darin geht es vor allem um die Nutzung von Pseudonymen als „Wirklichkeitsnamen“ in Bezug auf queere Identität. Er hat mich nachdenklich gemacht und mich lange über Pseudonyme nachdenken lassen. Nicht zum ersten Mal, das ist generell ein Thema, das mich in den letzten Jahren beschäftigt hat. Aber hier ging es mir vor allem um den letzten Satz: „Statt einem Verbergen von Identität wird das Pseudonym zu einem Zeigen und Sichtbarmachen von Identität.“ Ich nutze als Autorin in der Regel kein Pseudonym, bereue das inzwischen aber häufig (weshalb ich in Social Media meist auf FragmentAnsichten zurückgreife). Ich bin mir gleichwohl unsicher, ob ein Pseudonym für mich eher heißen würde, Identität zu zeigen oder sie zu verbergen. Irgendwie beides. Man hat ja so viele Identitäten. Aber das ist ein anderes Thema als das, worum es in Aikis Beitrag geht … Wie auch immer. Lest den Artikel, er ist interessant.
Auch sonst gab es auf TOR Online so einiges an Beiträgen. U. a. habe ich über Venedig als magische Metropole nachgedacht (und Beispiele in Teil 2 der gelesenen Bücher aus 2023 ausgeführt). Jamie Lee-Campbell hat deutschsprachige SF-Kurzgeschichten analyisiert und dabei viel Sex, Drugs und Religion gefunden (bei mir gibt’s glaub ich keinen Sex, selten Drugs und am häufigsten Religion … herrje, bin ich langweilig). Dann gab’s im November anlässlich der Neuübersetzung der Elric-Saga gleich mehrere Einführungen zu dem tragischen Kerl und Moorcocks Multiversum, beide verfasst von Markus Mäurer.

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Und wenn wir bei Markus sind, der hat in einem seiner letzten Wochen-Rückblicke ein Video-Essay mit dem Titel „Do SFF Authors Think We Are Stupid Now“ verlinkt. Ich … hab es mir nicht angeguckt, will aber trotzdem was dazu loswerden (schlimmste Kombi!). Denn das ist was, was mir bei aktuellen Büchern auch auffällt, zuletzt bei Branson Sandersons „Skyward“. Das hat mir recht gut gefallen, aber am Ende wurde ich doch sauer, weil der Autor bei der Motivation einiger Figuren plakativ ins Detail gegangen ist und offenbar nichts dem Zufall oder der Eigeninterpretation überlassen wollte. Nun ist das ein Jugendbuch, wo’s ja generell gerne moralisch wird, aber gerade bei erfahrenen Autor*innen hatte ich das noch selten so auf dem Silbertablett. Ich sehe dahinter durchaus eine Mischung aus Trend und der Angst vor Missinterpretation, bemerke da auch bei mir selbst stärkere Unsicherheiten als früher. Zudem beobachte ich in Rezensionen noch häufiger als früher, dass sich Lesende über offene Enden und andere Uneindeutigkeiten beschweren, selbst bei einem Autoren wie Kim Stanley Robinson. Als jemand, der das Spiel mit Ambivalenzen schätzt, finde ich das schade. Auf der anderen Seite wächst das Interesse an weird fiction und ähnlichen Subgenres, die stark mit der Interpretationslust der Lesenden spielen. Aber diese Zweischneidigkeit passt ja gut ins restliche Sozialbild. (Zur Weird Fiction und ein paar anderen Genre-Themen hoffe ich die Tage (ok, Wochen) noch einen eigenen Beitrag hinzubekommen.)
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Leider gab es in den letzten Monaten auch einige traurige Meldungen. So ist am 1. November im Alter von 54 Jahren Arndt Drechsler-Zakrzewski verstorben, dessen Science-Fiction-Grafiken zahlreiche Cover zieren, z. B. von Perry Rhodan. Auch die Grafik auf der Startseite von TOR Online ist sein Werk. Nachrufe finden sich u. a. auf dem Blog von Michael Marcus Thurner und vom Perry Rhodan-Team.
29 Tage später, am 30. November 2023, ist mit 76 Jahren Hubert Schweizer verstorben. Er illustrierte ebenfalls für Perry Rhodan, aber auch für zahlreiche klassische SF-Romane, u. a. von Tanith Lee oder Ursula K. LeGuin. In den letzten Jahren trat er besonders in der Exodus in Erscheinung; 2022 erhielt er für das Cover zur Exodus 43 den Kurd-Laßwitz-Preis. Einen Nachruf widmete ihm u. a. die Badische Zeitung (hinter Paywall).
Und zum Januarende erreicht uns noch die Nachricht, dass mit 74 Jahren am 25. Januar Hans Frey verstorben ist. Er schrieb zahlreiche Sachtexte zur Science Fiction, erst vor ein paar Tagen habe ich sein Essay „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“ (im Heft „Gestaltbare Zukünfte“) gelesen. 2021 wurde er für die beiden Bände „Fortschritt und Fiasko“ und „Aufbruch in den Abgrund“ mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. Daneben war Frey Politiker, von 1980 bis 2005 saß er als SPD-Abgeordneter im Landtag von Nordrhein-Westfalen.
Während der Wetzlarer Tage der Phantastik im letzten Jahr habe ich Hans kennengelernt. Wir haben uns über Solarpunk, über Utopien und über die Deutsche Bahn unterhalten. Er war ein sehr angenehmer, überlegter und differenzierter Gesprächspartner; ich hätte gerne noch viel mehr Gespräche mit ihm geführt und bin ehrlich dankbar, ihn getroffen zu haben.
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Damit enden diese Winteransichten.
Na, eine Sache noch: Er ist zwar schon im Februar erschienen, trotzdem verweise ich auf meine frische Award-Übersicht auf TOR Online. Denn dort ist auch beschrieben, wie man für die ESFS-Awards, den RAZ und den Vincent Preis abstimmen kann und die Phase dafür ist jetzt. (Edit: Heute, am 3. Februar, fällt mir auf, dass ich den Deutschen Fantasy Preis nicht drauf habe. Hmpf. War klar, dass ich einen vergesse.)
[…] Reß liefert auf ihrem Blog Fragmentansichten einen guten Überblick über die Ereignisse in der Phantastikszene des bisherigen Winters. Vom aktuellen Hugo-Skandal, […]
Danke für die Hugo-Zusammenfassung und den Link . Ich hatte jetzt schon mehrfach Posts dazu gesehen, aber nicht wirklich verstanden, was passiert ist und war zugegeben auch zu faul zum googeln . . .
An sich klingt das Konzept ja interessant, um zu verhindern, dass immer der gleiche regionale Geschmack bedient wird, aber ohne Transparenz und wenn man sich von Diktatur unabhängig macht, kann das wohl eher nicht funktionieren.
Ich bin gespannt, ob sich an dem System (bei dem ich bisher nur in Teilen durchsteige) etwas ändert, auch in Hinblick z. B. auf den nicht unumstrittenen WorldCon 2028 in Uganda. Auf jeden Fall enttäuschend, dass es so gelaufen ist. Ich fand die ganze Diskussion um Chengdu schwierig, war aber eher auf Seiten der Befürworter. Nehme es fast ein bisschen persönlich, dass die Zensur-Vorhersagen anscheinend Wirklichkeit geworden sind.
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