Ruhige Gegenwartsfantasy: „The Quiet is Loud“ von Samantha Garner
Eine Besprechung. Spoiler ahead.
Die phantastische Literatur befindet sich seit einigen Jahren in einer Umbruchphase: Die Trends und tropes, die sich vor allem seit den 1980ern entwickelt haben, werden stärker hinterfragt, unterwandert und dekonstruiert. Die Suche nach neuen, potenziell progressiven Elementen betrifft aber nicht nur die Inhalte, sondern ebenso Storytelling und Stil. Das Hollywood-eske Schreiben, bei dem die Lesenden sofort in Actionszenen hineingeschmissen werden und in dessem Zuge show don’t tell zum globalen Mantra der Autorenschaft geworden ist, ist nicht mehr alternativlos. Und nicht zuletzt hat der politische und didaktische Anspruch an die Phantastik im Allgemeinen und die Fantasy im Speziellen zugenommen. Zwar war die nie so eskapistisch, wie ihr noch heute gerne vorgeworfen wird, aber man kann kaum leugnen, dass die Bezüge zum Hier und Jetzt quer durch alle Subgenres zugenommen haben.
„The Quiet is Loud“, Ende August in deutscher Übersetzung von Diana Bürgel als formschönes Hardcover bei Piper erschienen, ist für all das ein gutes Beispiel.
Grob heruntergebrochen kann man das Buch beschreiben als „X-Men, aber ohne die Action“ – ein Bezug, der von Autorin Samantha Garner sogar selbst in der Danksagung hergestellt wird. Die Mutanten heißen hier Veker (oder, politisch korrekt ausgedrückt, Paradextrische) und sie leben ein mehr oder weniger normales Leben, oft unerkannt zwischen den anderen Menschen. Nach ein paar nicht ganz so normalen Zwischenfällen ringt die Weltgemeinschaft dennoch mit der Frage nach dem Umgang mit den Veker, die – wenn enttarnt – sozial oft gefürchtet und geächtet werden.
Wo nun aber die X-Men auf Action, Drama und Super-Villains mit Weltzerstörungsambitionen setzen, geht „The Quiet is Loud“ einen gänzlich anderen Weg. Denn wie der Titel schon andeutet, ist dieses Buch nicht nur ruhig – es ist geradezu still.
Im Zentrum der Handlung steht Freya, die ihr Geld damit verdient, online Tarotkarten zu legen. Auf diese Art kann sie ihre Zukunftsvisionen, die sonst in Form von (Tag-)Träumen auftauchen, ein Stück weit lenken. Nicht dass das ihren Klienten bewusst wäre – außer Freyas Cousine Mary und deren Ehemann weiß niemand davon, dass Freya eine Veker ist. Zu groß ist ihre Angst, deshalb ausgegrenzt zu werden. Ähnlich große Angst empfindet sie davor, jemand könne herausfinden, dass sie die Tochter eines umstrittenen Bestsellerautors ist. Und so lebt Freya extrem zurückgezogen, bis Mary sie überredet, zu einer Art Selbsthilfegruppe für Paradextrische zu gehen. Die Begegnung mit anderen ihrer „Art“ wird Freya in mehrfacher Hinsicht zwingen, sich ihren Ängsten zu stellen.
Während Freya zu Anfang so gefangen ist in ihrer Angst vor ihren eigenen Fähigkeiten und der Gesellschaft, dass es manchmal zum Haareraufen ist, findet sie – das ist nur ein marginaler Spoiler – im Handlungsverlauf zu sich selbst. Dabei ist sie kein Rising Phoenix, die „Verwandlung“ bleibt in einem realistischen Rahmen. Die Entwicklung findet ihren Höhepunkt in einem medialen Ereignis und einer Konfontation mit dem losen Antagonisten. An dieser Stelle wirkt das Buch kurz etwas hilflos angesichts des plötzlichen Aufblitzens „klassischer“ Handlungsstruktur. Doch selbst die Konfrontation läuft gewaltfrei ab, stattdessen setzt das Buch wie zuvor auf Kommunikation und found family, ohne deshalb in übertriebene coziness oder gar ins Kitschige abzudriften. Die schlussendliche Lösung bleibt sogar angenehm offen.
„The Quiet is Loud“ bleibt sich also bis zum Ende treu in seiner ruhigen Erzählweise, auch wenn die Stille abnimmt. Dass es dabei weitgehend frei von Action ist, heißt keineswegs, dass es langweilig wäre. Die Spannung ergibt sich hier aus dem langsamen Aufdecken von Familiengeheimnissen und Veker-Alternativgeschichte. Teils erfolgt das über Gespräche, teils über Rückblicke, teils auch über Freyas Visionen, deren Schilderung etwas gruselig-klaustrophobisches anhaftet. Das alles ist clever konstruiert, vor allem für einen Debütroman, und definitiv ein Positivbeispiel für die zeitgenössische Entwicklung der Contemporary Fantasy.
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Das wäre ein schöner Schlusssatz, aber beim Stichwort „Contemporary Fantasy“ muss noch ein Exkurs sein.
Mit Judith Madera, die das Buch für Literatopia rezensiert hat, habe ich auf Mastodon ein wenig über die Genre-Einordnung philosophiert, inspiriert von einem kurz zuvor von Lincoln Michel veröffentlichten Artikel über die Unterschiede zwischen Urban Fantasy und Magischem Realismus.
Ich denke, man kann sich vollkommen damit zufrieden geben, „The Quiet is Loud“ als Contemporary Fantasy zu lesen – oder meinetwegen als Urban Fantasy, wenngleich die Stadt hier nicht besonders lebhaft agiert. Allerdings fürchte ich zugleich, dass typische FantasylesendeTM hierzulande bei dieser Einordnung mit falschen Erwartungen an das Buch herangehen könnten. Es verbindet die ruhige Erzählweise, die ich sonst eher von Prä-1985er-Autorinnen wie Joy Chant oder Esther Rochon kenne, mit aktuellem Zeitgeist. Win-win quasi! Nur ist dieser im angloamerikanischen Raum inzwischen recht erfolgreiche Mix hierzulande noch nicht in der Breite angekommen. Bücher, die den Spagat in der Vergangenheit gewagt haben, hatten es in der Rezeption selbst dann schwer, wenn eine Bestsellerautorin wie Maggie Stiefvater drauf steht (ich denke an „Wie Eulen in der Nacht„). Obwohl ich finde, dass es dann höchste Zeit wird, dass die deutschsprachigen Lesenden über den Tellerrand ihrer Erwartungen hinaus schauen, lohnt es durchaus, bei „The Quiet is Loud“ auf angrenzende Genres oder Bewegungen zu schauen.
Judith ordnet es der Mystery und Dark Fantasy zu, was ich angesichts der psychologischen und ambivalenten Elemente nachvollziehbar finde. In englischsprachigen Rezensionen taucht darüber hinaus häufig der Begriff des Magischen Realismus auf, womit wir wieder bei Lincoln Michel wären. Die Nähe ist zweifellos vorhanden, die Erzählweise hat mich z. B. an Elia Barceló oder auch an Kazuo Ishiguro erinnert. Außerdem dienen die Fantasy-Elemente eher als Mittel zum Zweck: Es ist unübersehbar, dass Garner hier Themen wie persönliche und kulturelle Identität vor dem Hintergrund einer zwiegespaltenen Gesellschaft behandelt. Die Hauptfigur ist Tochter einer norwegischen Mutter und eines philippinischstämmigen Vaters, und die Feindseligkeiten gegenüber den Veker laufen an einer Stelle zusammen mit Rassismus gegenüber Freyas Familie. Dabei wird das Thema der kulturellen Identität aber keineswegs nur mit negativen Erfahrungen behandelt, vor allem die Bezüge zur philippinischen Kultur fügen sich einfach selbstverständlich in den Roman ein – beispielsweise dürften die Lesenden hinterher Experten für die philippinische Küche sein. Im Übrigen hat die Kanadierin Garner selbst einen Filipino-finnischen Background.
Auf dieser Ebene jedenfalls ist „The Quiet is Loud“ auch ein Familiendrama, in dem die phantastischen Elemente mehr Deko sind, um die schmerzhaft geschilderte Entfremdung von Freya und ihrem Vater nach dem Tod der Mutter zu unterstreichen.
Andererseits erbricht Freya an keiner Stelle plötzlich Kaninchen, und sie verwandelt sich auch nicht in einen Elefanten. Wenngleich viele Elemente des Magischen Realismus gegeben sind, will ich ihm daher nicht der Meta-Bezüge wegen das Feld überlassen. „The Quiet is Loud“ funktioniert gut als moderne Contemporary Fantasy, Punkt. Nee, doch kein Punkt. Es funktioniert nämlich weiterhin gut als Beispiel dafür, dass Traumelemente noch keinen Dreampunk machen. Denn Freyas Träume sind hier nicht Element des Widerstands, die Lösungen finden sich im Gegenteil in der Realität mit all ihren mal mehr, mal weniger aufreibenden Umbruchphasen.
Nun aber auf, macht euch selbst ein Bild. Es lohnt.
„The Quiet is Loud. Um ihre Zukunft zu retten, muss sie die Stille durchbrechen.“ Von Samantha Garner, Piper 2023, EAN 978-3-492-70659-9. Für die Besprechung habe ich ein Rezensionsexemplar erhalten.
[…] von Langenbuch & Weiß. Lange mit Stefanie Mühlsteph gequatscht. Mit Anwesenden über „The Quiet is loud“ und „Ich bin Gideon“ diskutiert und die Frage, was außer Romantasy überhaupt an Fantasy […]
[…] Dann gab es von Cliff Jones Jr. u. a. einen Beitrag zu typischen Dreampunk-Motiven, und wenn wir bei Subgenres sind, sei auch auf die Genderswapped-Sonderfolge zu 10 Ausgaben Queer*Welten verwiesen, worin es u. a. um Weird Fiction, optimistische Phantastik und Hexen ging. Einen lesenswerten Beitrag zu den Unterschieden von Urban Fantasy und Magischem Realismus bot außerdem Lincoln Michel; siehe dazu auch meine Besprechung von „The Quiet is Loud“. […]
[…] zu sagen weiß als „gefiel mir gut, war wieder besser als „Die Känguru-Offenbarung“, und „The Quiet is Loud“, was ich in einem eigenen Beitrag und auf TOR Online vorgestellt […]