Szene- und Dezemberansichten 2020
Wir diskutierten 2020 über allerhand tropes und Movements, fanden uns auf digitalen Cons wieder, differenzierten uns aus, fanden szeneextern Anerkennung, begrüßten und verabschiedeten Akteur*innen, hamsterten Bücher … und einiges anderes tat sich ebenfalls.
Tja. Sind wir also tatsächlich im Januar angekommen. Eigentlich sollte der Dezember noch separate Ansichten bekommen, denn es tut mir immer etwas leid um die ganzen Beiträge, die ins Hintertreffen geraten, weil sie nicht in einen Kombipost passen. Auch dieses Mal gäbe es auf jeden Fall genug Material für eigene Dezemberansichten – hab den Eindruck, dass zum Jahresende immer besonders viel veröffentlicht wird. Aber bei der Sammlung der Beiträge ist mir aufgefallen, dass viele Themen angesprochen werden, die ich ohnehin für den Szenerückblick eingeplant hatte. Damit das nun nicht zu viele Dopplungen gibt und ihr mir wegen Rückblicksmüdigkeit davonlauft, gibt es also doch wieder – wie schon 2019 – einen Kombipost.
Widerstandsoptimismus und Klimaprosa
Anfang 2020 war Corona zwar noch kein Thema, aber so richtig gut war die Lage trotzdem nicht. Klimawandel, Trump, Moria, Brexit: Gründe für Weltuntergangsstimmung gab es genug. Zugleich war aber auch das Bedürfnis nach Alternativen groß – nach positiven Zukunftsentwürfen, nach umsetzbaren Utopien. Unter den Phantasten bedeutete das anfangs, dass der Hopepunk hochgehalten wurde, dieses zunächst noch so ominöse Ding, das keiner so recht greifen konnte. Nun, Anfang 2021, ist Hopepunk nach wie vor da. Er wird nicht mehr so emotional diskutiert wie 2019, hat sich dafür aber aller Häme zum Trotz etabliert. Und wie schon kürzlich im Interview auf Skalpell und Katzenklaue erwähnt, hat er sich zu verschiedenen Interpretationen ausdifferenziert, in denen jeweils unterschiedliche inhaltliche und strukturelle Schwerpunkte gesetzt werden. Genau das sehe ich aber als gutes Zeichen, denn es zeigt die dahinterstehende Auseinandersetzung und trennt damit ein bloßes Label vom Movement. Auch dass dem Hopepunk neuerdings mit der Doomer Lit eine Gegenbewegung zugeschrieben wird, spricht im Grunde nur für ihn.
Trotzdem ist Hopepunk zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr der einzige prominente Player in Sachen Widerstandsoptimismus: Anfang 2020 sollte ich gemeinsam mit Ralf von SF Lit für den Buchreport einige Fragen dazu beantworten, inwiefern Klimathematiken eine Rolle in der deutschsprachigen Genreliteratur spielen. Betitelt wurde der entsprechende Beitrag prompt mit „Der Cli-Fi-Trend ist noch nicht angekommen“. Im Laufe des Jahres hat sich das allerdings geändert. Wohlgemerkt: In der phantastischen Near-Future-Belletristik ist Climate Fiction schon seit einigen Jahren ein Renner. Als wir uns aber die aktuelle Genre-Literatur in Hinblick auf die Thematisierung von Klimawandel und -katastrophen angeschaut haben, fiel uns auf, dass beides bis auf einige Ausnahmen maximal in Form einer vagen Klima-Apokalypse in der weiten Zukunft eine Rolle spielt. 2020 sorgten dann aber u. a. die Anthologien „Der Grüne Planet“ (Hirnkost) und „Bienen oder Die verlorene Zukunft“ (Art Skript Phantastik) sowie die Romanankündigung zu Lisa-Marie Reuters „Exit this City“ für frischeren Klimawind. Und besprochen wird sie überhaupt viel, die Cli-Fi, zuletzt im Dezember von Samuel Hamen auf Zeit.de. Und ja, wir wiederholen uns, aber auch sie ist eine Bewegung.
Es ist jedenfalls im Grunde wohl nur logisch, dass in diesem Zuge auch der Solarpunk wieder auf die Bildfläche zurückgekehrt ist. Obwohl ebenso wie die Cli-Fi in sich nicht rein utopisch (da wären wir wieder beim Thema Ausfächerungen und Interpretationen), wird ihm die Fähigkeit zugeschrieben, Cli-Fi und Hopepunk, aber auch soziale und technologisch-regenerative Visionen miteinander zu verbinden. Im Dezember profitierte er dabei auch vom Gegensatz zum Cyberpunk [1], der dank der Veröffentlichung von „Cyberpunk 2077“ ebenfalls in den Diskurs zurückgekehrt ist (falls er je weg war). Dazu erschienen auf TOR Online Artikel, welche sich mit ableistischen Problematiken bzw. dem Techno-Orientalismus (nicht nur) des Cyberpunks auseinandersetzen.

Unabhängiger von bestimmten Genres oder Movements versteht sich die Idee der Progressiven Phantastik. Ursprünglich im Juni aus einem Tweet von James Sullivan heraus entstanden, setzen sich aktuell auch weitere Autor*innen, darunter Judith Vogt oder Nora Bendzko, für diese Vision einer inhaltlich und strukturell neu gedachten SFF ein. Das Thema fand auch im Dezember mehrfach Beachtung, u. a. im VOGTalk auf YouTube.
Pandemische Auswirkungen und Anerkennungen
Was bei den Diskussionen um all diese Bewegungen und Visionen auffällt: Sie bleiben nicht mehr auf die Szene beschränkt. Von der Zeit über den Deutschlandfunk und die FAZ bis zur Kulturzeit wurden Hopepunk und Co. vielfach in den deutschsprachigen Allgemeinmedien aufgegriffen.[2] Zukunftsvisionen aus der Phantastik sind gesellschaftsfähig geworden – zumindest, wenn es um Science Fiction geht. Es ist beispielsweise nicht einmal zwei Wochen her, dass sich in der Zeit Maximilian Probst dafür aussprach, die SF-Literatur ernster zu nehmen.[3] Und auch, als so langsam aber sicher die Erkenntnis durchkam, dass wir einen gewissen Virus nicht wegignorieren können, war die Frage, wie z. B. bei José Saramago, Stephen King oder anderen phantastischen Autor*innen mit Pandemien umgegangen wird, plötzlich aktuell.
Apropos Pandemie: Die hat auch die Phantastikszene zu einem Umzug ins Digitale gezwungen, was ihr vergleichsweise gut gelang. Vermutlich kam es uns zugute, dass wir seit Jahrzehnten recht Social-Distancing-affin sind und außerhalb von Messen und Conventions vornehmlich über die digitalen Kanäle kommunizieren; Twitch und Discord waren schon vor Corona für viele keine Fremdworte. Mehr denn je sprießen jetzt also auch außerhalb der Online-Cons die digitalen Angebote, die Streams und Podcasts, die Mini-Games und Online-Fragerunden. Im Dezember kam beispielsweise zu Phantastik-Brunch, #Zeitverschreib und Co. noch ein Podcast-Angebot des Memoranda-Verlags hinzu.
Andere digitale Angebote und Akteur*innen sind jedoch gewichen. Erst im Dezember hat beispielsweise Stefan Servos von Herr-der-Ringe-Film.de angekündigt, die Pforten zu schließen. Auch wenn die angeschlossene Ardapedia unter der Ägide der Deutschen Tolkien Gesellschaft e. V. weiterexistieren wird, fühlt sich das wie das Ende einer Ära an.
Wir sind viele
Die digitalen Communitys dünnen sich damit weiter aus bzw. gehen in Social-Media-Bubbles auf. Das führt auch dazu, dass die Subszenen meinem Empfinden nach immer stärker aneinander vorbeilaufen. Die Diskussionskultur zwischen Twitter, Instagram und den verbliebenden Foren bzw. Facebook-Gruppen ist sehr unterschiedlich und Themen, die hier heftig diskutiert werden, werden dort ignoriert oder belächelt. Die unterschiedliche Rezeption fiel mir beispielsweise stark auf, als es im Februar um das PAN-Branchentreffen und den geplanten Vortrag von Peter Kees ging. Einige schienen sehr überrascht, dass es jemand für eine gute Idee halten konnte, so einen Programmpunkt einzuplanen. Ein kurzer Blick darauf, wie unterschiedlich dessen Beitrag im Deutschlandfunk zwischen Twitter und Facebook kommentiert wurde, erklärte aber ganz gut, wie es dazu kommen konnte. Etwas ähnlich ist es mit Diversity-Diskussionen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten – oft parallel zu tagesaktuellen Nachrichten – auch 2020 wieder viel Raum einnahmen und Wirkung zeigten, aber je nach Plattform und Bubble auf sehr unterschiedlichen Leveln geführt wurden und werden.
Wie stark die Realitäten aneinander vorbeilaufen, fiel mir aber noch stärker bei einem ganz anderen Thema auf, nämlich wenn es um Nachrufe ging. Es gab derer 2020 sehr viele; doch über wen berichtet wurde und vor allem, über wen nicht berichtet wurde, hat mir zu denken gegeben. Warum ist es so vielen Social-Media-unabhängigen News-Portalen der Phantastikszene beispielsweise keine Nachricht wert, wenn eine junge Phantastik-Verlegerin stirbt? Vermutlich, weil die Verfassenden schlicht nichts davon mitbekommen haben – was in einem Teil der Szene einen Tag lang quasi zur Schockstarre führt, wird in einem anderen kaum bemerkt. (Was mir in diesem Fall echt weh tut zu schreiben.)
Dass die Szene sich so ausdifferenziert hat, ist letztlich zwar gar nichts Schlechtes. Im Gegenteil finde ich es zum Beispiel spannend, wie 2020 mit Queer*Welten, Totenschein und We are bookish drei neue Print-Magazine herausgekommen sind, wie sie unterschiedlicher eigentlich nicht sein könnten, und die doch mehr oder weniger dasselbe Feld behandeln. Aber das Problem ist, dass manche Plattformen – darunter fasse ich auch Awards – von sich behaupten, für die komplette Phantastik einzustehen, während sie letztlich nur einen kleinen Teil repräsentieren oder erreichen.[4]
Neue Akteur*innen
Aber apropos Neugründungen und Awards. Auch außerhalb des bereits erwähnten digitalen Angebots und der Magazine hat 2020 einige neue Akteur*innen hervorgebracht. Beispielsweise hat die Stadt Krefeld einen Phantastik-Preis ausgelobt, zu dem erst kürzlich die Shortlist erschienen ist. Zudem haben neue Verlage wie Dancing Words oder Legionarion das Licht der Buchwelt erblickt. Andererseits hatten bestehende zu knabbern und allen Rettungsversuchen zum Trotz scheint nun Feder&Schwert endgültig Geschichte.
Und sonst?
Natürlich gab es noch viele andere Themen. Das Bücherhamstern beispielsweise, das von Art Skript Phantastik ins Leben gerufen wurde und bis heute als fester Begriff seine Bahnen zieht. Oder die Diskussionen darum, wie viel Wert man heute noch SF-Klassikern beimessen sollte. Ebenso wurden kolonialistische Elemente in der Fantasy und Science Fiction behandelt und diskutiert. Dann war da die Kritik an Romantasy- und YA-Tropes, die durch die neuen Bände von Twilight und Die Tribute von Panem aufgewärmt wurde. Zudem erfuhr die internationale, nicht-angloamerikanische Phantastik weiter steigendes Interesse, wobei ein besonderes Augenmerk auf chinesischer Science Fiction lag, die gelobt, aber auch kritisiert wurde.
Welche Themen und Diskussionen werden 2021 bestimmen? Wo geht es hin mit den Messen und Cons? Einige, wie die Buchmesse Saar, planen mit neuen virtuellen Konzepten. Andere, wie die CCXP, haben sich bereits um ein weiteres Jahr verschoben. Und manche, wie die LBM, hoffen noch, 2021 live und in Farbe stattfinden zu können. Was Letzteres angeht, bin ich skeptisch. Aber ansonsten halte ich mich mit Vorhersagen zurück und lasse mich überraschen … [denkt euch nun ein Bild von mir mit Tee]
[1] So sympathisch mir Solarpunk ist, gebe ich allerdings zu bedenken, dass die Sicht auf Solarpunk als Utopie und „Gegen-Cyberpunk“ wiederum ein wenig euro- bzw. US-zentristisch ist. Solarpunk denkt in erster Linie technologisch-regenerative Visionen, die wiederum klassistische Probleme befeuern können. In US-Veröffentlichungen wurde das (gegenüber z. B. südamerikanischen Veröffentlichungen) zuletzt ausgeklammert, wodurch sich das streng optimistische Bild etabliert hat (das ich auch im TOR-Beitrag noch als gegeben angenommen hatte).
[2] Betone das „deutschsprachig“ hier nur, weil das für die englischsprachigen schon länger gilt. Wobei man der Fairness halber sagen muss: Es ist jetzt auch kein 2020er-Verdienst, dass Science-Fiction-Inhalte ihren Weg zu Zeit und Co. finden, das ist schon seit ein paar Jahren so. Akzeptiert es, wir sind keine Underdogs mehr!
[3] Frage mich in diesem Zusammenhang aber mal wieder, ob die Leute dem Lektüreplan von Schulen zu wenig zutrauen oder ob ich einfach sehr progressive Lehrer*innen erwischt hatte. Bei uns wurde durchaus Science Fiction gelesen, u. a. von Charlotte Kerner oder George Orwell, und in anderen Klassen standen auch Aldous Huxley oder Ray Bradbury auf dem Plan.
[4] Mir ist klar, dass a) immer eine Auswahl getroffen werden muss, b) viele Plattformen Verkürzungen verlangen, c) man nicht immer in er Hand hat, wen man (z. B. bei Publikumsabstimmungen) erreicht und d) man auch diesem Blog vorwerfen kann, vermeintlich über „die“ Szene, tatsächlich aber nur über vage Teile dieser zu berichten. Ich kann euch zumindest versichern, dass mir sehr bewusst ist, dass ich vieles nicht mitbekomme. Ich surfe durch Foren, Social Media und Blogs, aber letztlich wähle ich nur aus, was mich gerade interessiert. Und ich hab z. B. keine Ahnung, was die Horrorszene so treibt?
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