Jesus, der Hipster von Jerusalem

12. Juli 2016 3 Von FragmentAnsichten

Musicals genießen allgemeinhin den Ruf, ebenso massentauglich wie kitschig zu sein. Na schön, in Anbetracht des einen oder anderen Klassikers oder En-Suite-Kassenschlagers ist das vielleicht verständlich. Musicals, die cool sein und mehr als Herzschmerz in Zeiten des Dramas behandeln möchten, bezeichnen sich daher gerne als Rock Oper.*

Ehe Andrew Lloyd Webber Bombast-Tragödien** für sich entdeckte, nahm er sich gemeinsam mit dem späteren Disney-Guy Tim Rice zweier recht eigenwilliger Bibel-Interpretationen aus diesem Genre an: Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat*** und Jesus Christ Superstar. Letzterem wohnt dabei spätestens seit der Verfilmung von Norman Jewison ein dezentes Hippie-Flair an.

Hauptsache Protest

Ein Merkmal, das Jesus Christ Superstar mit Hair teilt, und es hätte nicht verwundert, wenn beide mit Abflauen der Jugendbewegung wieder in der Versenkung verschwunden wären – ähnlich, wie es bei Chess der Fall war, das mit Ende des Ost-West-Konflikts deutlich an Popularität einbüßte.****

Nun, soweit kam es aber nicht. Beide Musicals werden noch immer mehr oder minder regelmäßig von verschiedenen Ensembles aufgeführt. Ein Grund dafür könnte in der Zeitlosigkeit liegen, die beide trotz ihrer scheinbar fokussierten Handlungen aufweisen. Da ist zum einen die Musik selbst, die nicht zuletzt dank ihrer Rockanleihen aktuell bleibt, aber zum anderen auch die unterschwellige System- oder Gesellschaftskritik, die beidem anhaftet – Hair zugegebenermaßen auf den ersten Blick mehr denn Jesus Christ Superstar.

Hippies in Zeiten von Occupy

Als das Koblenzer Theater 2014 bei seinem inzwischen alljährlichen Musical-Open Air auf der Festung Ehrenbreitstein Hair zeigte, wichen dann auch die Verweise auf Vietnamkrieg und Hippiekultur weitgehend tagesaktuellen Themen wie Datenüberwachung und Occupy. Das war im ersten Moment ungewohnt, im zweiten aber ein sehr lobenswerter Ansatz. Die Protestkulturen mögen sich ändern, das Prinzip bleibt. Danach waren die Weichen für weitere Motivumdeutungen gelegt. Ging es 2015 bei Cats trotz Iro und Tannenbaum recht klassisch zu, zeigt sich derzeit 2016 Jesus Christ Superstar von seiner modernsten Seite.

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Christof Maria Kaiser als Judas, Marcel Hoffmann als Jesus (Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz)

Noch ein Messias in Zeiten von Starbucks

Jesus selbst hat hier seine Römer-Latschen und die lange braune Matte an den Haken gehängt, stattdessen präsentiert er sich zeitgemäß als Kurt Cobain im Abercrombie & Fitch-Look. Aus dem Hippie ist ein Hipster geworden, der eine Feel-Good-Sekte um sich versammelt hat, in der Apple-Jakobus und Starbucks-Johannes ebenso wenig fehlen dürfen wie Petrus Lebowski. Kein Wunder, dass Judas langsam an seinen Kumpanen verzweifelt. Die lächeln bei jeder Gelegenheit Instagram-erprobt in die fast bei jedem Lied anwesende Kamera, was prompt auf eine oberhalb des minimalistischen Bühnenbilds angebrachte Videoleinwand projiziert wird. Das Musical wird so zur Mockumentary, in der man nicht weiß, ob man die naiven Hedonisten beneiden oder sie nicht doch besser verdammen soll in ihrem unreflektierten Hype um einen posttraditionalen Messias, der insgesamt arg selbstbezogen daherkommt. Dass sowohl er als auch Judas in der vergleichsweise kurzen Spielzeit dennoch als differenzierte Figuren wahrgenommen werden können, ist neben der Inszenierung sicher auch dem darstellerischen Talent von Marcel Hoffmann und Christoph Maria Kaiser zu verdanken.

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Die Herzkönigin wäre neidisch (Foto: Matthias Baus für das Theater Koblenz)

… und wo bleibt eigentlich Roger Daltrey?

Jesus Christ Superstar derart umzudeuten, ist eine geniale Idee. Orchester, Technik und Schauspiel wissen da qualitativ mitzuhalten, einzig der Gesang ist stellenweise etwas gewöhnungsbedürftig. Wie üblich setzt das Theater Koblenz seinen Opernchor ein, was die eigentlich sehr dynamische The Temple-Sequenz trotz optischer Pluspunkte ein wenig zu getragen daherkommen lässt. Gleiches gilt für Pilate’s Dream und als kleines Jérôme Pradon-Fangirl musste ich mich auch erst einmal an Hoffmanns Gesangsinterpretation gewöhnen. Spätestens nach Trial by Pilate und dem optisch leicht psychedelischen Gethsemane war ich aber versöhnt.***** Überhaupt weiß die zweite Hälfte ungleich stärker zu überzeugen als die erste – sowohl, was die Dynamik von Gesang und Geschichte angeht als auch in Bezug auf die nun weniger offensichtliche, dafür aber umso eindringlichere Symbolik. Ihren Höhepunkt findet die natürlich bei Jesus‘ Digital-Kreuzigung, bei der dann auch einer Besucherin in der Reihe hinter mir dämmerte, dass sie sich gar nicht in Tommy befand.

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Marcel Hoffmann als Jesus, Georg Leskovich als Pontius Pilatus (Foto von Matthias Baus für das Theater Koblenz)

Wer Lust hat, das Musical selbst zu erleben: An fünf Abenden im Juli wird es noch aufgeführt, die Normalpreise ohne Anfahrt via Seilbahn bewegen sich in fünf Kategorien zwischen 16,50 Euro und 60,50 Euro. (Mein Kategorie 4-Sitzplatz war von der Sicht her vollkommen in Ordnung. Wer in diesem Sommer auf Nummer Sicher gehen will, sollte allerdings einen der (teureren) überdachten Plätze wählen.)

Fazit

Insgesamt bietet das Theater Koblenz mit Jesus Christ Superstar eine spannende inhaltliche Neuinterpretation der Rock Oper von 1971, dargeboten in einer mit kleinen Abstrichen sehr gelungenen Aufführung. Schade nur, dass die stilistisch passende Umgebung der Ehrenbreitstein nicht mehr miteinbezogen wurde.

So oder so – man darf gespannt sein, was das Publikum im nächsten Jahr erwartet. Vielleicht eine Umdeutung von Chess als Parabel auf die Krim-Affäre? Oder doch Martin Guerre in Zeiten des syrischen Bürgerkriegs?

Verwendung der Fotos mit freundlicher Genehmigung des Koblenzer Theaters.

[Text ohne Bilder unter CC BY-ND 3.0 DE]


* Oder als American Tribal Love Rock Musical. Oder es bekommt eine Metalversion. Oder es wird von Tim Burton verfilmt. Oder es ist die Rocky Horror (Picture) Show.
** und Katzen-Kabaretts
*** I don’t get it.
**** Schade eigentlich, allein Endgame und Pity the Child sind schon einen näheren Blick wert.
***** Und überhaupt war dieser Pontius Pilatus viel zu cool, um ihn nicht toll zu finden.