Früher war alles anders 1: „Der schwarze Garten“
Vor ein paar Wochen ist mir beim Aufräumen das Notizbuch zu „Spielende Götter“ in die Hände gefallen. Beim Durchblättern ist mir bewusst geworden, wie viel sich während des Schreibprozesses noch verändert hat. Waaas, die beiden sollten mal was miteinander anfangen? Huch, wer war diese Figur und was habe ich mit ihr gemacht? Oh, der sollte sterben?
Egal, wie detailliert man vorher plottet – ich denke, in den meisten Romanen ist es so, dass sich während des Schreibens und in den Lektoratsdurchgängen noch einiges verändert. Figuren und Nebenhandlungen kommen hinzu oder werden rausgekürzt. Titel und Funktionen verändern sich, Figuren müssen um etwas mehr Drama willen den Löffel abgeben oder werden dank einer glücklichen Fügung des Schicksals doch noch gerettet, und manchmal weicht sogar die Apokalypse dem Happy End.
Worum es geht
Diese bahnbrechende Erkenntnis hat mich zur Frage getrieben, wie wohl die Romane, die ich lese, in ihren Rohversionen aussahen. Die naheliegendste Möglichkeit, dahinter zu kommen, ist die entsprechenden Autoren einfach zu fragen. Und daraus ist die Idee zu einer neuen Blogreihe entstanden. An dieser Stelle sollen fortan in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Autoren zu Wort kommen, um von der Entwicklung ihrer Romane zu berichten. Figuren, die der Handlung weichen mussten, wird hier noch einmal eine Plattform geboten, Titeln, die dem Marketing oder dem Urhebrrecht nicht gerecht wurden, eine Erwähnung ermöglicht. Soweit die Idee, von der ich hoffe, dass sie bei euch ankommen wird.
Den Anfang dieser Reihe macht Dorothe Zürcher mit ihrem Urban Fantasy-Roman „Der schwarze Garten“ – der größten Überraschung, die mir das Lesejahr 2016 bisher beschert hat.
Der schwarze Garten
Das Buch entführt den Leser in die Welt der Schweizer Sagen, in der Drachen und Geister ebenso zu Hause sind wie keltische Götter und christliche Heilige. Nur, dass die meisten Bewohner davon nichts mitbekommen – ganz im Gegensatz zu Schokoladenverkäuferin Kaia. Als Tochter des einstigen Herrschers über den dämonischen schwarzen Garten kennt sie sich aus mit den Untoten und Magiewesen, die, zumeist unsichtbar für menschliche Augen, in Städten und Bergen leben. Im Allgemeinen klappt das Zusammenleben ganz gut. Doch dann entsteigt ein gefürchteter Kriegsgott seinem Grab und droht, Zürich zu vernichten. Kaia will ihn aufhalten – doch dafür muss sie die finsteren Kräfte des schwarzen Gartens entfesseln.
Klingt von der Beschreibung her nach reichlich Action und Fantasy. Ist es aber nicht, und das ist gut so. Die phantastischen Elemente sind hier so geschickt in die Realität eingewoben, dass man geneigt ist, „Der schwarze Garten“ dem Magischen Realismus zuzuordnen. Irgendwo zwischen Laurent Gaudés „Das Tor zur Unterwelt“ und Andreas Dresens „Die STADT des Schwarzen Engels“ wird hier ein atmosphärisches Puzzle geliefert, das man so in der deutschsprachigen Fantasy noch selten gefunden hat. Kurzweilig, faszinierend und spannend.
Doch wie hat sich diese Geschichte im Laufe der Zeit entwickelt? War der Drache einmal ein Alb, Kaia einmal ein Kai? Im folgenden Text verrät es euch die Autorin selbst:
Dark mutiert zu urban
Als ich die ersten Sätze des „Schwarzen Gartens“ tippte, nannte ich das Manuskript „Die verschlungene Nacht“. Ein Jahr später gab ich ihm den Namen „Schlangenring“ und unter „Der schwarze Garten“ wurde es publiziert.
Warum diese Veränderung?
Vor gut vier Jahren plottete ich mit einem Literaturagenten an einem Dark Fantasy – aber dann kam alles anders: Mein erster High Fantasy wurde publiziert und der Verlag machte mir den Vorschlag, einen Urban Fantasy zu schreiben. Ich war sogleich Feuer und Flamme, hatte aber keine Ahnung, wie ich das Projekt angehen solle. Also nahm ich die ganze Personenkonstellation aus meinem Dark Fantasy-Projekt. Ich setzte sie nach Zürich und recherchierte über dessen Sagenwelt und die Kelten, um die mystisch-unheimliche Seite aus diesem Stoff zu ziehen.
Dabei veränderte ich den Plot von Grund auf. „Die verschlungene Nacht“ wurde zum „Schlangenring“. Ich strich Horden von Priestern, Soldaten und Randständigen, die sich normalerweise in einem Dark Fantasy tummeln. Regula, Werner Horbacher und Erofin, der Lichtkrieger, sind davon noch übrig geblieben. Wobei ich zugeben muss, dass Erofin ziemlich an den Rand gedrängt wurde. Heute würde ich ihn mehr einbeziehen oder ganz streichen.
Neu hinzu kamen Kevin, Kaias Neffe, und Raphael, der Geistheiler aus dem Appenzell. Kevin ist mir sehr ans Herz gewachsen, weil ich durch ihn Kaias widersprüchliche Gefühle zu ihrer Familie zeigen kann. Bei Raphael hoffe ich immer noch, dass ich ihn nicht zu klischeehaft dargestellt habe.
Kaia hätte ursprünglich eine Liebesbeziehung mit dem Fomori eingehen sollen. Okay, den Dark Fantasy hätte ich an die Wand gefahren, das sehe ich jetzt ein! Also entstand Michael. Bevor Kaia sich auf ihn einlässt, hat sie eigentlich wilden SM-Sex mit Eric. Die entsprechende Szene wurde jedoch komplett gestrichen, Kaia macht jetzt nur noch Andeutungen über ihr Sexleben aus der Vergangenheit. Die Beziehung mit Michael wurde dafür vertieft und ich gebe zu: Kaia ist kratzbürstig. Sie hat sich ziemlich gewunden, bis ich ihr endlich romantische Gefühle entlocken konnte.
Ganz neu für mich war, dass die Geschichte an realen Orten spielt. Heute bin ich ziemlich begeistert davon. Wie mühsam ist es doch, einen ganzen Weltenbau zu erfinden! Ich liebte es, stattdessen die Orte des Geschehens aufzusuchen, mich hinzusetzen und die Szene vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Als ich Hundwil im Appenzell besuchte, schrieb ich die Szene gleich neu. Hundwil ist ein traditionelles Dorf, aber ich hatte irgendwelche Agglomerations-Überbauungen im Kopf. Auch die Szene auf der Insel Ufenau musste ich nochmals überdenken. Die Insel ist viel kleiner, als ich in Erinnerung hatte. Kaia hätte echt Mühe, sich im Unterholz zu verstecken. Ich atmete auf, als ich ein kleines Wäldchen entdeckte, wo ich sie übernachten lassen konnte.
Trotz reicher Sagenwelt hatte ich in meiner Fantasy-Begeisterung noch ein paar Vampire nach Zürich geschmuggelt, die sich in der Partyszene tummelten. Mein erster Betaleser raufte sich die Haare und strich alle raus. Heute ich bin froh darum.
Über alle Jahre geblieben sind der Mord an Zaol, Kaias Zerrissenheit deswegen und ihr unklares Verhältnis zu Elio. Auch die Perspektive – Ich-Form in Präsens geschrieben – habe ich beibehalten. Ich hörte dauernd Kaias Stimme in meinem Kopf. Als ich über die Sage „Der schwarze Garten“ stolperte, habe ich gejubelt. Denn ich wusste, dass der Garten genau das Umfeld hergab, in dem sich Kajas schwarzmagische Familie aufhält. So fand ich den Schlüssel zu meinem Plot und den endgültigen Titel.
„Der schwarze Garten“, KaMeRu Verlag, 2015, ISBN: 978-3-906082-45-5
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