7 + 7 Buchansichten 2024, Teil 2

7 + 7 Buchansichten 2024, Teil 2

27. Dezember 2024 0 Von FragmentAnsichten

Musiker-Biographien, Kurzgeschichten-Sammlungen und Romane vom High-Fantasy-Wälzer bis zur Berlin-Utopie: Ich hatte ein sehr gutes zweites Lesehalbjahr, und ehe sich das Jahr verabschiedet, stelle ich wieder 7 (+1) der gelesenen Titel vor. Wie üblich hatte ich bereits im Juli 7 Bücher aus dem ersten Halbjahr kurz-besprochen.

Noch bis in den September rein war meine Leseauswahl sehr feenhaltig, um für meinen Vortrag während der Wetzlarer Tage der Phantastik zu modernen Feenbildern entsprechend gewappnet zu sein. Obwohl ich der Feen-Fantasy in der Regel einiges abgewinnen kann – mein nächster Roman, den ich Stand Jetzt 2025 veröffentliche, hat ebenfalls eine entsprechende Thematik –, brauchte ich danach erst einmal literarische Kontrastmittel. Also habe ich mich zunächst auf meine alte Liebe zu Autobiographien besonnen, und dann noch die inzwischen schon etwas angestaubte Berlin-Utopie „Sungs Laden“ gelesen. Danach ging es zurück zum Großbereich Phantastik. Mit den folgenden Kurzbesprechungen konzentriere ich mich auf Fantasytitel:

(1)   Diverse Impressionen Londonder Flüsse von Ben Aaronovitch

Die letzten Buchansichten gingen mit einer Vorstellung von „Die Flüsse von London 8“ zu Ende, hier setzt sich das gleich mit einer Doppel-Besprechung fort: Auf die Kurzgeschichtensammlung „Der Geist in der British Library“ hatte ich mich schon lange gefreut, denn in aller Regel schätze ich solche Kurzausflüge in große Buchuniversen. Sie bieten die Chance, den Alltag der Figuren besser kennenzulernen oder Nebenschauplätze zu beleuchten. Im Prinzip tut das auch „Der Geist in der British Library“, wodurch die mit Wesen und Regeln aufgeplusterte magische Parallelwelt aus „Die Flüsse von London“ greifbarer wird. Allerdings haftet vielen Geschichten mehr das Flair hastig geschriebener Auftragsarbeiten an (die meisten wurden zunächst für bestimmte Veranstaltungen, Benefiz-Veröffentlichungen usw. geschrieben) und einige ähneln sich dabei inhaltlich so stark, dass sie austauschbar wirken.

Trotzdem gibt es einige Highlights, sehr gut hat mir etwa „Vanessa Sommers zweite Weihnachtsliste“ gefallen, worin der Frage nachgegangen wird, wie sich der Alltag einer Figur ändert, die – wie Vanessa Sommer in „Der Oktobermann“ – sehr plötzlich und ohne eigene magische Fähigkeiten mit dem Wissen um die Parallelwelt konfrontiert wird. In eine ganz neue Richtung geht zudem „A Dedicated Follower of Fashion“, was in den 1960er Jahren spielt und stilistisch einige Brüche wagt, ohne die Lore zu vernachlässigen.

„Autowahn“, der erste Band der „Flüsse von London“-Comicreihe, ist demgegenüber deutlich klassischer. Ähnlich wie in den Kurzgeschichten wird auch hier einigen Nebenfiguren mehr Raum gegeben, insbesondere Molly und Nightingale. Manche Auftritte – z. B. von Beverly – hätte man gleichwohl aussparen oder wenigstens kürzen können, vielleicht hätte das der Verständlichkeit dieser doch recht wirr erzählten Geschichte um ein besessenes Auto geholfen.

„Der Geist in der British Library“ von Ben Aaronovitch, dtv 2021, ISBN: 978-3-42321-958-7
„Die Flüsse von London 1: Autowahn“ von Ben Aaronovitch, Panini 2018, ISBN: 978-3-74160-915-2

(2)   Immer Ärger mit den Göttern: „Godkiller“ von Hannah Kaner

Dieses Buch war – Spoiler – eines meiner Lesehighlights des Jahres, obwohl es nicht gerade Liebe auf den ersten Blick darstellte. Ich habe das Buch als Leseexemplar zugeschickt bekommen, mich hat aber weder das Cover (ein großer Hirsch) noch der Klappentext besonders angesprochen und der Lesestapel war auch so groß genug. Also lag das Buch eine Weile auf Halde, ehe ich zum Glück doch noch einen Blick gewagt habe.

Es wird viel über moderne Fantasy diskutiert; dass sie nur noch aus Romantasy und / oder (diesseitiger) Urban Fantasy bestehe, dass sie nur noch Tropes abhake und sich keine Zeit mehr lasse, dass Versuche der Weiterentwicklung in Sackgassen enden oder an ihren Ambitionen scheitern usw. „Godkiller“ ist dabei ein gutes Gegenbeispiel: Im Zentrum stehen eine Veiga, die die letzten verbliebenen Götter jagt, ein ehemaliger Ritter, der einen Freund zu retten versucht, und ein Mädchen, das an einen Lügengott gekettet ist. Gemeinsam wagen die vier eine Queste in die alte Stadt der Götter, während die Welt um sie herum nach kurzer Friedenszeit erneut am Rande eines Krieges steht.

Klassische Questenfantasy also, die gleichwohl im Jahr 2024 angekommen ist und dabei vieles richtig macht. Der Weltenbau ist durchdacht und insbesondere in Bezug auf den Götterglauben und deren Bewertung angenehm ambivalent – für die Lesenden ist die Frage, ob man eher zu den Götterjagenden oder den Gläubigen gehören würde, nicht leicht zu beantworten. Kaner nimmt sich Zeit für Szenen, die keinen direkten Handlungszweck haben, aber stärker ins Setting einführen, diesem entsprechend eine Tiefe verleihen, die in den letzten Jahren in der Tat nur wenige Werke erreicht haben. Im wahrsten Sinne in den Weltenbau eingeflochten ist dabei eine Casual Diversity, die nicht bei ethnischer oder queerer Vielfalt endet, und die mit besagten Slice-of-Life-artigen Elementen dafür sorgt, dass das Buch an einigen Stellen stilistisch an Lynns „Die Chroniken von Tornor“ erinnert. Aber auch für sich selbst nimmt sich die Handlung Zeit, ohne deshalb ins Langatmige zu verfallen. Gestört hat mich lediglich die im Grunde unnötige Verwendung des Begriffs „Godkillerin“ in der Übersetzung; da ansonsten keine englischsprachigen Begriffe auftauchen, wirkt dieser wie ein Fremdkörper und mit „Veiga“ gäbe es eine weltenbauliche Alternative.

„Godkiller“ ist der Auftakt einer Trilogie, deren zweiter Band „Sunbringer“ im August bereits auf Deutsch erschienen ist.

„Godkiller“ von Hannah Kaner, Piper 2024, 978-3-49270-921-7

(3)   Hot Fae Summer: „Trial of the Sun Queen“ von Nisha J. Tuli

„Trial of the Sun Queen“ steht dem gegenüber für Andersweltfantasy, die … für mich nicht so funktioniert. Was vielversprechend als gritty Kerkerfantasy beginnt, entwickelt sich schnell zu Faeriep*rn der Marke Facepalm: Denn gerade sitzt Lor noch im Gefängnis ein, um sich mit anderen Insassinnen und den Wärtern zu prügeln, da erscheint ein hotter Fae mit fancy Flügeln und entführt Lor in ein anderes Reich, wo ein noch hotterer Fae gerade auf Brautschau ist. Lor nimmt Teil am „Trial of the Sunqueen“, einer Reihe potenziell tödlicher Prüfungen, deren Gewinnerin die Frau von HotFae2 und entsprechend Sonnenkönigin wird. Lor wurde dazu zwar nicht ausgebildet, aber offenbar machen Jahre der Misshandlung eine gute Kämpferin? Na ja, und sie ist halt auch sehr ~sinnlich~ und hat im Gegensatz zu den feinen Faedamen kein Problem damit, die Bestückung des Prinzen eingehend zu studieren, was ihr einige Pluspunkte einbringt. Aber da ist ja auch noch HotFae3, ein verfeindeter Bad-Boy-Faeprinz, der seine eigenen Interessen mit Lor hat.

An dem Punkt fällt dem Buch kurz ein, dass es nicht nur Orgien beschreiben, sondern auch eine Handlung erzählen will, aber leider ist es dann auch schon zu Ende und wenn man wissen will, ob es die Kurve kriegt oder doch nur als Checkliste für Tropes dient, muss man zu Band 2 der „Artefakte von Ouranos“ greifen und … möchte man das? Es sei gesagt, dass die Tetralogie viele Fans hat, aber mir war’s letztlich zu viel des Edeltrash. Ich habe den Eindruck, dass diese Art der Literatur nur funktioniert, wenn man sich tief in die Subszene mit deren selbstironischer Liebe zu Tropes, Klischees und bekannten Versatzstücken begibt. Ich habe durchaus ein Interesse an weiterer teilnehmender Beobachtung, zum gegenwärtigen Zeitpunkt halte ich „Trial of the Sun Queen“ aber nicht für eine Sternstunde der Fae-Romantasy. Dann doch lieber …

„Die Artefakte von Ouranos 1: Trial of the Sun Queen“ von Nisha J. Tuli, Knaur 2024, ISBN: 978-3-42644-827-4

(4)   Evil Fae Autumn: „Der Prinz der Elfen“ von Holly Black

Die „Modern Faerie Tales“-Bücher von Holly Black sind moderne Klassiker; „Der Prinz der Elfen“ (engl. „The Darkest Part of the Forest“), ein Standalone innerhalb der Reihe, gehört hier zu den jüngeren Titeln. Die Handlung lässt sich vage als Highschool-Variante der Tam-Lin-Sage beschreiben. Im Städtchen Fairfold, wo Menschen- und Feenwelt aneinandergrenzen, droht der Frieden zwischen beiden Völkern zu brechen, als es mehrere grausame Angriffe auf die menschlichen Bewohner gibt. Schülerin Hazel und ihr Bruder Ben verbünden sich mit einem verbannten Feen-Prinzen, um dem Treiben ein Ende zu bereiten.

Die Geschichte ist ein wenig beliebig erzählt, man merkt dem Buch an, dass die Autorin – wie im Nachwort geschildert – anfangs nicht so recht wusste, wo sie hin will. Trotzdem hatte ich meine Freude, was zum einen der gruseligen Atmosphäre geschuldet ist, zum anderen Hazel, deren kühle, berechnende Art ich als angenehme Abwechslung gegenüber den üblichen verdächtigen YA-Fantasyheldinnen empfunden habe.

„Der Prinz der Elfen“ von Holly Black, cbt 2019, ISBN: 978-3-57031-280-3

(5)   Ungewöhnlich geradlinig: „Die Treibjagd von Siam“ von Claire North

„Die Intrige von Venedig“, der erste Band der „Spielhaus“-Trilogie von Claire North, war Anfang des Jahres meine Überraschungsentdeckung. Band 2 springt nun von der venezianischen Renaissance ins Bangkok des Jahres 1938 und statt Thene steht Remy im Mittelpunkt, ein erfahrener Spieler, der sich im trunkenen Zustand zu einer Partie hat hinreißen lassen, die er kaum gewinnen kann. An Aufgeben ist jedoch nicht zu denken, denn im Falle einer Niederlage gehen all seine Erinnerungen an seinen Widersacher über. Also hastet Remy einmal quer durch Siam, um ein Katz-und-Maus-Spiel zu gewinnen, bei dem er die schlechteren Karten gezogen hat …

„Die Treibjagd von Siam“ ist nicht so „besonders“, nicht so verschachtelt und Kopfkino-lastig wie der erste Band dieser New-Weird-Alternate-History-Trilogie, in der die Partien der nahezu zeitlosen Spielenden über das Schicksal von Nationen entscheiden. Die Geschichte ist geradlinig erzählt und trotzdem undurchsichtiger als Band 1; es mag daran liegen, dass ich sie wieder als Hörbuch gehört habe, aber mir war im Grunde nicht ganz klar, welches Spiel genau Remy und sein Widersacher spielen. Ist es schlicht Fangen? Auf jeden Fall ist dieses Spiel weniger eigenständig als das von Thene (die ein schönes Cameo hat), sondern mehr eine Hinführung zur großen Abschlusspartie in Band 3.

Das nimmt dem Buch allerdings nichts von seiner Spannung, und das Setting ist zweifellos ungewöhnlich – ich habe jedenfalls einiges über die Situation des damaligen Siam gelernt. Insofern zieht mich die Trilogie weiter in ihren Bann und ich bin auf den Abschluss gespannt.

„Das Spielhaus 2: Die Treibjagd von Siam“ von Claire North, Lübbe Audio 2016, ISBN: 978-3-838-78174-7

(6)   Am Ende war’s halt Magie: „Aldoran“ von Jean-Luc Istin, Kyko Duarte und J. Nanjan

Ich habe eine Vorliebe für die französischen Sword-&-Sorcery-Comics aus dem Hause Splitter. Sie sind immer wunderhübsch gezeichnet, haben meist einen feinen Humor und bieten eine solide Handlung bis zum überhasteten Ende, das in aller Regel mit irgendeiner an den Haaren herbeigezogenen surrealen Lösung aufwartet. Genau das erwartet einem auch in diesem Auftakt zur „Magier“-Reihe, in der ein alter Krieger und eine sehr junge Magierin die unabhängige Stadt Castlelek vor den Klauen eines gierigen Königs retten müssen.

„Magier 1: Aldoran“ von Jean-Luc Istin, Kyko Duarte und J. Nanjan, Splitter 2024, ISBN: 978-3-962-19495-6

(7)   „Der falsche Bart des Weihnachtsmanns“ von Terry Pratchett und andere niedliche Geschichten

Und Kurzgeschichtensammlung Nr. 2: „Der falsche Bart des Weihnachtsmanns“ hatte ich schon lange ins Auge gefasst, aber wie sich das gehört, habe ich bis Dezember gewartet, um sie zu lesen. Die hier gesammelten Kurz- und Kürzeststorys spielen zur Abwechslung nicht in der Scheibenwelt, sondern in Blackbury. Theoretisch ist das das Setting von Pratchetts „Johnny Maxwell“-Romanen, allerdings handelt es sich hier offenbar um ein anderes Blackbury, das Pratchett in früheren Jahren vornehmlich für seine unter Pseudonym veröffentlichten Kindergeschichten verwendet hat. Leider hat mir das nicht das Buch selbst verraten, sondern erst ein Wikipedia-Artikel.

Verglichen mit seinen späteren Werken beinhaltet „Der falsche Bart des Weihnachtsmanns“ keine große Kunst, aber niedliche, mal mehr, mal weniger weihnachtliche Unterhaltung. Persönliche Highlights waren das „Das Wetterküken“, worin die örtliche Wetterexpertin einen Wetterhahn aufzieht, und „Der Computer, der dem Weihnachtsmann schrieb“ (ja, eben darum geht es).

„Der falsche Bart des Weihnachtsmanns“ von Terry Pratchett, Piper 2024, ISBN: 978-3-492-28240-6

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Jo. Wie schon gesagt, es war ein gutes Lese-Halbjahr, das gilt auch inhaltlich. Meine Highlights aus dieser Liste waren „Godkiller“ und „Die Treibjagd von Siam“, abgewinnen konnte ich aber allen Büchern was – selbst „Trial of the Sun Queen“.

Für 2025 steht schon einiges in den Startlöchern, vor kurzem habe ich etwa mit dem Hörbuch zu G. A. Aikens „Royal Arrow“ angefangen, der Fortsetzung von „Princess Knight“ (my kind of fariep*rn). Außerdem warten hier u. a. noch der angelesene zweite Band der „Prinzessinnen“-Reihe von Christian Endres, zwei weitere Autobiographien (Patrick Stewart und Pamela Anderson) und am Horizont zeichnen sich zwei Auftragsarbeiten ab, für die ich mal wieder einiges themenbezogenes werde lesen „müssen“. Meine Erwartungen an 2025 sind verhalten, aber lesetechnisch könnte es unterhaltsam werden.