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Sommeransichten 2024
Awardansichten und KI-Differenzen, Demokratien und Nahzukunftspotenziale, harmlose und weniger harmlose Diskussionen, Auf und Ab von Kleinverlagen und ein Nachruf.
Anfang August, das heißt Sommeransichten, und Sommeransichten, das heißt auch immer Awardansichten: So wurde bekanntgegeben, dass der mit 4.000 Euro dotierte Phantastikpreis der Stadt Wetzlar, der im September offiziell verliehen wird, in diesem Jahr an Zara Zerbe mit „Phytopia Plus“ geht. Auch der Kurd Laßwitz Preis wird zwar erst im September verliehen (im Rahmen des ElsterCons), die Preistragenden stehen aber bereits fest: Aiki Mira hat mit „Neurobiest“ erneut die Romankategorie für sich entschieden, während Uwe Hermann für „Die End-of-Life-Schaltung“ die Auszeichnung in Sachen „Beste Erzählung“ erhält. Weitere Preistragenden sind u. a. Matthias Fersterer, Karen Nolle und Helmut W. Pesch für ihre Übersetzung von Le Guins „Immer nach Hause“, Hans Frey für das Sachbuch „Vision und Zerfall – Deutsche Science Fiction in der DDR“ und in zwei Sonderpreisen der Hirnkost Verlag.
Die ESFS Awards, die Mitte August zum ErasmusCon in Rotterdam vergeben werden, haben derweil mit Website-Problemen zu kämpfen, weshalb die Nominierungen über Facebook bekanntgegeben wurden. Dass während der deutschen Nominierungsphase betont wurde, dass man Science Fiction hier nicht zu eng interpretieren sollte und Vorschläge nicht mehr über scifinet.org, sondern über die Website von Robert Corvus vergeben wurden, hat derweil nicht dazu geführt, den Preis zu ent-bubblen.
Die Preistragenden der europäischen Nachwuchsauszeichnung, der Chrysalis Awards, stehen bereits fest: Für Deutschland wird Marie Erikson ausgezeichnet, für Österreich Ralph Alexander Neumüller.
Und auch außerhalb Europas ist die Awardsaison im Gange. So wurden z. B. die Finalist*innen der Ignyte Awards bekanntgegeben, das Publikumsvoting läuft den August über. Auch die Shortlist für den Ursula K. Le Guin Award ist draußen, und die Hugos sorgen mal wieder für Aufregung, wie man auf dem Blog von Cora Buhlert mit vielen Verlinkungen nachlesen kann.
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Die Skoutz Awards indes haben nicht ganz die Bedeutung der Hugos, sorgen aber ebenfalls mit schöner Regelmäßigkeit für Drama. Dieses Mal war der Stein des Anstoßes, dass „KI-Bücher“ auf der aus allen Einreichungen bestehenden Longlist vertreten waren. Der nachfolgende Sturm an Entrüstung hat neben einigen Unklarheiten dazu geführt, dass die Awards für 2024 ausgesetzt wurden. Nun könnte man sagen, Schnee von gestern, das Thema ist seit Mai durch. Allerdings ist das Thema noch lange nicht durch, längst kämpfen die nächsten Auszeichnungen mit der Frage, wie sie mit KI-generierten Inhalten umgehen sollen. Überhaupt bleibt KI der große Aufreger, erst vor zwei Wochen machte die Runde, dass Bastei Lübbe mit KI-Übersetzungen experimentiert und einer Übersetzerin nur 5 Euro / Seite für eine redaktionelle Überarbeitung zahlen wollte.
Wie also umgehen mit alldem? Mancher fordert, gar keine KI-Tools zu verwenden. Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass das wünschenswert wäre, ist es eine Forderung auf verlorenem Posten. In meinem (Brotjob-)Arbeitsalltag sind KI-Tools, insbesondere Text- und Bildgeneratoren sowie Recherchetools, längst so etabliert wie Trello oder Zoom. Klar gibt es Bedenken. So wie zu Trello oder Zoom.
Insofern ist die Frage nicht mehr, ob KI, sondern wie. Was es natürlich keineswegs einfacher macht. Gar philosophische Dimensionen nimmt es ein, wenn wir nun vor der Frage stehen, was ein „KI-Buch“ zu einem solchen macht. Wie viel Hilfe darf enthalten sein, wo beginnt die Schöpfungshöhe? Jurist*innen aus aller Welt raufen sich die Haare, Kunstschaffende entdecken, dass Urheberschutzrechte weder isoliert noch unumstößlich sind (hallo, Schrankenregelungen!) und mancher befindet nun, Kunst sei ohnehin ein überbewertetes Gut – es sind wilde Zeiten! Wobei letztlich offensichtlich wird, was schon lange gebrodelt hat. Ein bisschen Data Mining hier, ein wenig Pinterest-Screenshots dort, „Quelle unbekannt“ ist netzsozial akzeptiert und wenn ein Plagiat das Exodus-Backcover ziert, scheint das auch eher ein Kavaliersdelikt. Sicher ist es nicht ganz fair, die Urheberrechtsverletzungen kleiner Instagram-Accounts mit der Rücksichtslosigkeit gigantischer Tech-Unternehmen zu vergleichen, aber seien wir ehrlich: Die Kultur, die das klassische Werk abwertet, haben wir alle geschaffen, und ihre Dimensionen sind nicht leicht zu bewerten.
Leicht zu bewerten ist hingegen der Umgang der Menschheit mit ihrer neuen Macht. Ah, was hätten einige KI-Tools für Potenziale! Was hätte eine offene KI für Potenziale! Wenn nur Medienkompetenz oder AI-Literacy mehr als Schlagworte wären. Stattdessen glauben Leute offenbar, eine Übersetzung bestehe nur aus dem Übertragen von Wörtern von einer Sprache in eine andere. Oder alle Geschichten ließen sich aus dem erzählen, was bereits geschrieben wurde. Und wenn Bias reproduziert werden, so ist das natürlich nur die nüchterne Wahrheit, die wir nicht akzeptieren wollen. Wobei die entsprechende Hörigkeit auf die „künstliche Intelligenz“ nichts ist, was Konservative oder Tech-Jünger für sich gepachtet hätten, wie wir etwa beobachten konnten, als die Antworten von ChatGPT zum Wahl-o-Mat die Runde machten, oder in der Solarpunk-Visualisierung, in der ein generiertes Bild von ein paar grün bewachsenen Wolkenkratzern immer gern zur Hilfe genommen wird.
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Apropos. Im Juni ist die 29. Ausgabe des kostenfreien Webzines PHANTAST mit dem Schwerpunkt „Near Future“ erschienen. Darin enthalten ist ein Beitrag von mir („Naher Optimismus, ferne Utopie“), in dem ich mich dafür ausspreche, die Nahzukunftsträchtigkeit in den Solarpunk zurückkehren zu lassen. Viele entsprechende Geschichten siedeln sich lieber in einer fernen, postapokalyptischen Zukunft an, nutzen gern metaphysische Elemente. So spannend erzählt die daraus resultierenden Geschichten allerdings sein mögen, vermisse ich dabei oft die ursprüngliche Idee, reale Lösungsansätze aufzugreifen. Dabei bieten Architektur, Maker-Kultur, Open-Source-Entwicklungen, auch Start-Ups u. v. m. spannende Anknüpfungspunkte, die man mit den Mitteln der Science Fiction weiterdenken könnte.
![Blockartige Häuser unter blauem Himmel, über Stege verbunden, dazwischen Blumenkästen, vorne ein alter Ofen](https://fragmentansichten.de/wp-content/uploads/2024/08/schoonschip.jpg?w=1024)
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Eine ganz alltägliche Utopie, die mir in der entsprechenden Literatur ebenfalls zu kurz kommt, ist die Demokratie. Eigentlich eine sehr feine Sache, und es hat mich gefreut, als die Mithila Review ihr 2022 eine Hopepunk-Ausgabe gewidmet hat. Ansonsten tut sich die Phantastik oft schwer mit ihr, was in den letzten drei Monaten gleich zwei Beiträge inspiriert hat: Peter schrieb auf Skalpell & Katzenklaue über seine ambivalenten Gefühle gegenüber Demokratien in der Fantasy. Swantje Niemann hingegen sieht auf TOR Online eindeutig Potenzial in der Thematik, stellt Beispiele vor und wünscht sich weitere.
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Zur Demokratie gehören auch Kleinverlage, schließlich sorgen kleine, unabhängige Verlage mit dafür, dass vielfältigen Stimmen eine Plattform verschafft wird. Über die Krise, in der sich speziell deutschsprachige Phantastik-Verlage befinden, schrieb kürzlich Lena Richter auf TOR Online inklusive Erklärungen zu den Hintergründen und Strukturen, mit denen sich Verlage so herumschlagen müssen.
Als Kleinverlagsautorin bekomme ich diese Krisen ebenfalls mit, insbesondere die Auslistung durch die Barsortimenter war für mich spürbar. Zugleich ist mir allerdings aufgefallen, dass zuletzt viele neue Phantastik-Verlage das Licht der Welt erblickt haben, z. B. Von Morgen, LeeBooks oder Realms & Rune. Gerade unter dem Eindruck, dass sich die junge Buchszene sehr gewandelt hat – Stichwort Buchboxen und Farbschnitt – fände ich es interessant, wie die Stimmung unter den Neuen ist und ob hier vielleicht wiederum ganz andere Wege gegangen werden.
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Alte Wege gehen die Reaktionen derweil in Bezug auf die Missbrauchsvorwürfe gegenüber Neil Gaiman. Ach, Leute. Seid überrascht, seid verletzt, seid vorsichtig in der Bewertung, aber hört doch auf, so zu tun, als sei Freundlichkeit oder der kommunizierte Wertekanon einer Person ein Garant für irgendwas. Sollten wir den Punkt nicht langsam überkommen haben, an dem jemand, dessen Persona dark und edgy ist, viel freudiger verurteilt wird als jemand Nettes? Zugegeben, das wäre irgendwie sozial auch seltsam. Und doch – Netz, lern dazu, Szene, sieh hin. Jedes „das war eben damals so“, das jetzt als Reaktion rausgeholt wird, sollte eine Ahnung davon geben, was noch so alles war. Unabhängig davon, wie viel oder wenig an diesem Fall dran ist – ich habe mich nicht mit ihm beschäftigt, mich lediglich in Frustration verloren über die Reaktionen auf Social Media und darüber hinaus.
Harmloseres Diskussionsmaterial bot Esquire mit einer Liste der „75 Best Sci-Fi Books of All Time„. Ach ist das schön, wenn man sich einfach darüber streiten darf, ob „Dune“ wirklich auf Platz 2 gehört. Da bleibt noch Luft, auf Robert von Cubes hehren Versuch zu verweisen, via Ruhrbarone Differenzierung in die Frage um Rowlings vermutliche Transfeindlichkeit zu bringen.
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Leider bleiben auch diese Jahreszeitenansichten nicht ohne eine sehr traurige Meldung: Am 29. Mai ist Marny Leifers verstorben, die vielen als Bloggerin von Fantastische Bücherwelt bekannt war. Ich bin ihr ein paar Mal begegnet und habe sie als ebenso ruhige wie freundliche Person kennengelernt, außerdem gerne die fairen Besprechungen auf ihrem Blog gelesen. Ein Nachruf ist via PAN e. V. veröffentlicht worden.
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Wenden wir uns herbstwärts – obwohl der Sommer ja noch in vollem Gange ist. Dessen bisherige Phantastikveranstaltungen inkl. FeenCon musste ich weitgehend skippen, fest eingeplant habe ich aber die Wetzlarer Tage der Phantastik, die vom 13. – 15. September stattfinden. Thema ist in diesem Jahr „Alles von gestern? Mythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Von mir gibt’s dort einen Beitrag zu Mythpunk, Faerieporn und anderem fancy Feenkram. Und im Oktober stehen dann ja auch schon wieder die Frankfurter Buchmesse und der BuchmesseCon an – plus erstmals die Koblenzer Buchmesse, wo ich mir mit Laura Dümpelfeld einen Verkaufstisch teilen werde.
Bis dahin, man liest sich.
[…] u. v. m. Einige dieser Events gingen mit weiteren News einher: Auf dem ElsterCon wurden die bereits im Sommer bekanntgegebenen KLP-Preistragenden ausgezeichnet, auf dem WorldCon die Hugos verliehen, auf dem […]