7 + 7 Buchansichten 2024, Teil 1

7 + 7 Buchansichten 2024, Teil 1

2. Juli 2024 5 Von FragmentAnsichten

Die Mitte des Jahres ist erreicht und so will es die Blogtradition, dass ich sieben Buchtitel vorstelle, die ich im ersten Halbjahr gelesen habe – sieben weitere folgen dann im Dezember.

Ich habe weiter an meinem Plan festgehalten, beim Lesen keinen Plan zu haben. Ausnahmen haben dabei gleichwohl die Regel bestätigt, denn im Januar standen erst mal „Die Chroniken von Tornor 2 + 3“ für die Klassiker-Besprechung mit Skalpell & Katzenklaue an. Danach folgten einige Solarpunk-Geschichten, denen ich mich an anderen Stellen widme. Ansonsten … wie gesagt. Was mir vor die Füße fiel, sprich- oder wortwörtlich, wurde konsumiert. Manches hab ich nur angelesen, manches ist noch in der Mache, manches waren Rereads oder Sachbücher und dann waren da diese sieben Titel, vorgestellt in beinahe chronologischer Reihenfolge:

(1) Military SF für Teens: „Skyward 1: Der Ruf der Sterne“

Ich beginne mit dieser Military Spacefantasy für Jugendliche aus Sanderson’cher Feder, da ich sie schon in den vergangenen Buchansichten angeteasert und prompt direkt an Neujahr ausgelesen hatte. Im Zentrum der Handlung steht hier die junge Spensa, die in einem menschlichen Außenposten auf dem unwirtlichen Planeten Detritus aufwächst, der sich beständigen Angriffen durch ein gesichtsloses Alienvolk gegenübersieht. Hochgeachtete Piloten nehmen immer wieder den Kampf mit den Aliens auf, um diese von den Menschenstädten wegzulocken. Eben jenen Piloten schließt sich Spensa als Kadettin an – und muss als Tochter eines berüchtigen Verräters neben Aliens auch Vorurteile, schlechte PR und ihre eigenen Ängste bekämpfen. Und sich nicht zuletzt mit der Allgegenwärtigkeit des Todes auseinandersetzen, denn jedes Gefecht verlangt seine Opfer.

Es fällt mir schwer, das Buch als Ganzes zu bewerten. Anfangs musste ich mich durchmühen, weil Spensa eine unfassbar nervige Figur ist und mich die starken militaristischen Aspekte nicht abgeholt haben. Auch der Weltenbau erschien mir, wenngleich innovativ, seltsam flach. Sowohl die Schule der Kadetten als auch die unterirdischen Städte werden nur lapidar beschrieben, der Fokus liegt klar auf Spensa und dem Kampf gegen die gar geheimnisvollen Aliens. Sobald sie es in die Pilotenschule geschafft hat, geht außerdem eine Art „10 kleine Jägermeister“ los, bei dem ihre Mitschüler und Mitschülerinnen einer nach dem anderen während der Gefechte sterben, was mich aber seltsam kalt gelassen hat, da die Figuren in der Kürze der Zeit kaum ans Herz wachsen konnten. Mit der Zeit gewinnen aber alle Aspekte an Tiefe und es tauchen einige Pageturner-Stellen auf (selbst für Leute wie mich, die von ellenlangen Gefechtsbeschreibungen nicht viel halten). Vor allem aber durchlaufen die Figuren und der Weltenbau eine clever konstruierte, reflexive Entwicklung, die mich letztlich sogar mit Spensa hat Frieden schließen lassen. Nur ist das Ende unnötig überhastet, nachdem sich die Handlung zuvor angenehm Zeit gelassen hat.

Unterm Strich hat mich das Buch nicht vollends abgeholt, spannend war es jedoch allemal. Ob ich die Reihe weiterverfolge, wird sich zeigen.

„Skyward 1: Der Ruf der Sterne“ von Brandon Sanderson, Knaur 2021, ISBN: 978-3-426-52686-6

(2) Elitäre Belanglosigkeiten: „Selection 2: Die Elite“

Bei Kiera Cass‘ Selection hatte ich nach Band 1 eher nicht erwartet, die Reihe fortzusetzen. Ja, ich hatte mehr Spaß mit dieser cozy Schaumbad-Dystopie, als ich zugeben will, aber es war auch ein Buch, das ich schnell wieder vergessen hatte. Bloß tauchte dann Band 2 im öffentlichen Bücherschrank auf und nun, ich bin vermutlich auch nur ein Mensch.

Allerdings einer, der schon gerne ein bisschen Handlung hat, und als solcher ist man bei „Die Elite“ fehl am Platze. America, das Mädchen aus bescheidenem Hause, hat es unter die letzten sechs Kandidatinnen geschafft, die um das Herz des Prinzen wegeifern. Nur findet der böse König sie ungeeignet, weil sie ständig undurchdachten Stuss von sich gibt, und dann ist da ja auch noch der sexy Wächter Aspen, der alles sehr verwirrend macht, und die Sache mit den Rebellen, bei denen man nicht weiß, was sie wollen, deren Angriffe aber immer eine gute Gelegenheit für America und den Prinzen darstellen, sich in einem Schutzraum näher zu kommen.

Nee. Sorry, ich bin raus. Also, wenn Band 3 im öffentlichen Bücherschrank auftaucht, kann ich für nichts garantieren, aber derzeit bin ich einfach nur beeindruckt, mit welcher Aneinanderreihung belangloser Tropes und Deus-Ex-Machina-Momenten man einen Bestseller schreiben kann. Im Grunde endet das Buch, wo es angefangen hat, nur mit weniger Mädchen und weniger Sympathien für America, die viel Meinung und wenig Ahnung hat. Dafür wird der Mangel an nennenswerter Handlung mit vielen kulturellen Klischees ausgeglichen. Die Italienerinnen sind alle lebensfroh und freundlich, die Deutschen reserviert und farblos, die Chinesen wahlweise böse, kühl oder beides und die „Südrebellen“ (= Mittelamerikaner?) wollen grundlos zerstören. Und von dem aus heutiger Sicht irritierend konservativen und heteronormativen Status Quo wollen wir mal gar nicht anfangen, sonst verrutscht noch das Krönchen.

„Selection 2: Die Elite“ von Kiera Cass, Fischer Sauerländer 2014, ISBN: 978-3-7335-0095-5

(3) Menschen und weitere Monster: „Die Chroniken der Meerjungfrau: Der Fluch der Wellen“

Nun aber mal zu was Positivem: „Die Chroniken der Meerjungfrau: Der Fluch der Wellen“ von Christina Henry hat für einen Einzelband zwar einen unnötig langem Titel, ansonsten gibt es aber nicht viel zu meckern. Ich hatte das Buch eigentlich nur aus der Bibliothek ausgeliehen, um für meinen Artikel über den Zirkus in der Fantasy etwas nachzuschauen, habe mich dann aber dank des bittersüßen Prologs schnell festgelesen.

Wie der Titel schon andeutet, erzählt Henry hier die Geschichte der Undine bzw. der „kleinen Meerjungfrau“ in neuem Gewand und kreuzt sie mit der historischen Figur des P. T. Barnum, der seinerzeit u. a. eine angebliche „Fidschi-Meerjungfrau“ in seinem zweifelhaften Kuriositätenkabinett zeigte. Heraus kommt eine Historical Fantasy, der man anmerkt, dass die Autorin ursprünglich aus dem Dark-Fantasy– und Horrorbereich kommt. Trotz lichter Momente ist die Grundstimmung düster und melancholisch. Die angenehm ruhig erzählte Handlung verwendet dabei viel Tell, was in einigen Rezensionen kritisiert wird, aber ich empfand es als passend. Es ist eines von vielen Elementen, mit denen zwischen der Meerjungfrau Amelia und den Menschen eine Distanz aufgebaut wird, die visualisiert, dass Amelia trotz ihrer Anpassung ans Leben in der New Yorker Gesellschaft etwas Fremdes bleibt. Ein paar Fehler und Logiklöcher (Amelia wird der Öffentlichkeit als stumm präsentiert, spricht aber mit den Wachleuten?!) waren zwar irritierend, haben mir die Freude am Buch aber letztlich nicht genommen.

„Die Chroniken der Meerjungfrau: Der Fluch der Wellen“ von Christina Henry, Penhaligon 2021, ISBN: 978-3-7645-3237-6

(4) Fantasy zum Chillen: „Magie und Milchschaum“

Mit „Magie und Milchschaum“, einer in jeder Hinsicht harmlosen Erzählung über eine Orkkriegerin, die auf Latte Macchiatto umsattelt, hat sich 2022 die Cozy Fantasy als eigene Spielart etabliert. Ich habe mir von dem Buch leichte, humorvolle Unterhaltung versprochen – und genau das auch bekommen. Dabei nimmt die Handlung ihre Figuren und ihr Sword-&-Sorcery-typisches Stadtsetting durchaus ernst, es ist also keine Satire oder Funtasy-Klamotte. Stattdessen erwartet einen genau die richtige Mischung aus selbstironischem Umgang mit Genreklischees auf der einen, und einer eigenständigen Handlung auf der anderen Seite. Noch schöner wär’s gewesen, der Klappentext hätte nicht schon den ganzen Konflikt verraten.

Auch hierzu gibt’s inzwischen eine Fortsetzung, „Bücher und Barbaren“. Weiß nicht, wann ich dazu komme, aber freu mich drauf.

„Magie und Milchschaum“ von Travis Baldree, dtv 2023, ISBN: 978-3-423-26356-6

(5) Schicksal puzzlen: „Das Spielhaus 1: Die Intrige von Venedig“

Das Spielhaus ist der Ort, an dem das Schicksal gewoben wird: Die Partien, die hier ausgefochten werden, entscheiden über den Aufstieg und Fall von Imperien. Es existiert, wie sich das für ein Fantasy Edifice gehört, unabhängig von Zeit und Raum, doch eines seiner Tore befindet sich im Venedig der Renaissance. Hier betritt eines Tages die unglücklich verheiratete Thene das Spielhaus. Auf der untersten Ebene gewinnt sie eine Partie nach der anderen, was bald das Interesse der Spielherrin weckt. Thene wird erwählt, an jenem Spiel teilzunehmen, in dem Menschen zu Tarotkarten und der Fortgang des Schicksals von Venedig selbst zur Trophäe wird.

Auf „Die Intrige von Venedig“, den ersten Band der Spielhaus-Trilogie, bin ich bei der Recherche für den Venedig-Artikel auf TOR Online aufmerksam geworden. Ich habe das Buch dort aber unerwähnt gelassen, weil ich es nicht recht einordnen konnte. Genau das hat mich wiederum neugierig genug gemacht, es mir als Hörbuch zu holen. Belohnt wurde ich mit einer verschachtelten Geschichte voller Wendungen und Ebenen, die mich in mancher Hinsicht an „Verlorene der Zeiten“ erinnert hat. Genre-technisch würde ich es irgendwo im angenehmen Niemandsland der Weird Fiction verorten; eine Empfehlung auf jeden Fall für alle, die ungewöhnliche Puzzle-Geschichten mögen und sich an einer distanzierten Erzählweise nicht stören.

Auch wenn man über das Hörbuch mit Sprecher Stefan Kaminski nichts Schlechtes sagen kann, würde ich mir rückblickend allerdings wünschen, die Geschichte gelesen zu haben. So fiel es mir schwer, bei den vielen Namen und Spielfiguren bis zum Ende durchzublicken, wer wer war. Da ich manchmal lernresistent bin, werde ich aber wohl auch den zweiten Band als Hörbuch hören. (P. S.: In gedruckter Form gibt es sogar alle drei Kurzromane inzwischen als Sammelband. Übersetzt übrigens von Eva Bauche-Eppers!)

„Das Spielhaus 1: Die Intrige von Venedig“ von Claire North, Bastei Lübbe 2016, EAN: 978-3-732-53361-9

(6) Anleitung zum Traurigsein: „Die unheimliche Bibliothek“

Das hier war eine Cover-Ausleihe: Murakamis „Die unheimliche Bibliothek“ fiel mir in der (weniger unheimlichen) Stadtbibliothek ins Auge, dank der Coverillustration von Kat Menschik, die auch weitere Illustrationen zum Buch beigetragen hat. So ist „Die unheimliche Bibliothek“ mehr eine Graphic Novel oder eine illustrierte Erzählung – auf jeden Fall die Ausrede, hier nicht von Romanansichten zu sprechen, obwohl bei Buchansichten die nicht erwähnten Sachbücher eine Augenbraue heben.

Jedenfalls will der Protagonist dieses ~Buchs~ eigentlich nur seine Ausleihen zurückgeben und sich in der Bibliothek nach neuen Titeln erkundigen. Doch das harmlose Begehren führt ihn ins Labyrinth unter dem Gebäude und zu einem Monster, das ihn gefangennimmt und mit Büchern mästet, bis es sein Wissen aussaugen kann.

Vom noch harmlosen Anfang bis hin zum tieftraurigen Ende ist dies eine Geschichte, die nicht für sich steht. Man kann sich einen Spaß daraus machen, die schaurige Erzählung und ihre Ebenen zu interpretieren – allerdings endet der Spaß spätestens auf den letzten Seiten, die mich einfach nur deprimiert haben. Damned, so hoffnungslos hab ich mich seit „The Road“ nimmer gefühlt, und hier hatte ich das nicht erwartet.

Weil das ein unschöner letzter Satz ist, ziehe ich „Die unheimliche Bibliothek“ hoch auf Platz 6 und berichte final stattdessen von …

„Die unheimliche Bibliothek“ von Haruki Murakami, Dumont 2013, ISBN: 978-3-8321-9717-9

(7) Wenn die KI zu viel redet: „Die Flüsse von London 8: Ein weißer Schwan in Tabernacle Street“

Die Flüsse von London war in den letzten Jahren die einzige Reihe, bei der ich nicht groß überlegt hatte, weiterzulesen – ich habe es einfach getan, und das mit viel Freude. Nach dem eher ernüchternden Ende von „Die Glocke von Whitechapel“ habe ich dann aber doch eine Pause eingelegt. Der Handlungsstrang um den Gesichtslosen Magier war auserzählt und das war für mich ein annehmbarer Schlussstrich.

Zum Glück aber hat mich auch hier die Bibliothek verführt, doch weiterzulesen, denn mit „Ein weißer Schwan in Tabernacle Street“ geht es bergauf und zurück zum episodenhafteren Erzählen. Peter ist nach seiner Suspendierung wieder im Dienst als Police Constable für magische Belange, doch dieses Mal wartet auf ihn ein Undercover-Einsatz. Entrepreneur Skinner hat eine K.I. entwickelt, die ein wenig zu viel Eigenleben entwickelt. Und so wird Peter in Skinners Unternehmen eingeschleust, wo er es bald mit von Geistern besessenen Maschinen, Konkurrenz aus Übersee und viel Tech-Babbel zu tun bekommt. Das ist vergnügliche, sauber recherchierte Science Fantasy, in der alte und neue Gesichter zusammenkommen. Den Überblick über das ohnehin schon zerfaserte Figurenkabinett erleichtert es gleichwohl nicht. Und ich hab nicht kapiert, wo der Bezug zum Titel liegt.

„Die Flüsse von London 8: Ein weißer Schwan in Tabernacle Street“ von Ben Aaronovitch, dtv 2021, ISBN: 978-3-423-21966-2

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Nun ist auch schon der Juli heran und es warten die nächsten Bücher darauf, (weiter-)gelesen zu werden. Hannah Kernes „Godkiller“ beispielsweise, woran ich seit ein paar Wochen langsam, aber mit Gefallen lese und wozu ich schon jetzt recht viel zu sagen hätte. Vielleicht schaffe ich einen eigenen Beitrag dazu, mal sehen. Ansonsten gibt’s die nächsten Kurz-Rezensionen spätestens im Dezember. Soweit der Plan.