Sommeransichten 2023

Sommeransichten 2023

1. August 2023 0 Von FragmentAnsichten

Verlagsübernahmen und Auszeichnungen, Low Fantasy und Genderpunk, „Das letzte Einhorn“ und altnordische Sagas, FeenCon und Vegan Fantasy Fair u. v. m.

Während ich diese Zeilen tippe, ist der Juli zwar noch halb im Gange, aber schon jetzt zeigt sich: Es waren drei produktive und ereignisreiche Monate für die Phantastikszene. Und es werden entsprechend lange Monatsansichten.

Verlagskarussell

Wo fange ich an? Zur Abwechslung mit Verlagsnews, denn da gab es einige in den letzten Monaten: So ist Polarise nun Teil von Plan9 und damit von Bedey & Thoms; d. h. das SF-Programm wurde von Plan9 übernommen, während sich Polarise fortan rein Sachtexten widmet. Der schon eine Weile brach liegende Basilisk Verlag wiederum wurde zum 1. Juli weitgehend von Atlantis aufgesogen und bei Memoranda startet demnächst mit Carcosa ein neues Imprint für Übersetzungen aus dem angloamerikanischen Raum.

Awardkarussell

Okay, das ging jetzt doch schneller als gedacht. Dann die Awards: Frauke Berger und Boris Koch machen mit dem Comic „Das Schiff der verlorenen Kinder“ das Rennen um den Krefelder Preis für Fantastische Literatur, während Maja Ilisch mit „Unten“ die Jury des Phantastik-Preises der Stadt Wetzlar überzeugen konnte. Offiziell verliehen werden die Auszeichnungen im Rahmen des Festivals der Fantasie und Krähen-Fee (26. + 27.08.) bzw. der Phantastischen Tage Wetzlar (08. – 10.09.).

Die Spitzenpreisträger des Deutschen Verlagspreises wiederum werden Ende September bekanntgegeben, über das Gütesiegel dürfen sich aber schon jetzt 64 Unternehmen freuen, darunter der Zauberfeder Verlag.

Die European Science Fiction Awards hingegen wurden im Rahmen des EuroCon in Uppsala Anfang Juni vergeben. Auf die Chrysalis Awards bin ich bereits in den Frühlingsansichten eingegangen (Aiki Mira und Jaqueline Mayerhofer), ansonsten konnte für Deutschland das Future Fiction Magazine das Rennen machen. Wie schon 2022 wurde auch in diesem Jahr die Vorentscheidung für Deutschland über das Forum scifinet.org getroffen.

Die meisten deutschsprachigen Auszeichnungen sind damit für 2023 bereits durch, aber wer sich noch Hoffnungen machen mag, kann sich z. B. bis 1. Oktober für den Inklings-Preis bewerben. Dieser wird in zwei Sparten verliehen: An Dissertationen und Habilitationen sowie an „Kreatives“, was auch Romane miteinschließt. Weitere Infos finden sich im Ausschreibungstext.

Genrekarussell

In Sachen Subgenres war es lange etwas ruhiger, aber nun hat sich auch hier wieder einiges getan: JANK scheint sehr entschlossen, den Genderpunk als neue Variante zu etablieren und hat hierzu eine Reihe von Beiträgen via Medium veröffentlicht. Der Begriff macht als soziale Bewegung schon länger die Runde, teils synonym zu Genderf*ck, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis jemand die passende Literatur dazu beschreibt. Im deutschsprachigen Raum sehe ich hier allerdings in der Benennung mehr Chancen für eine allgemeine Queere Phantastik, wie sie z. B. Aiki Mira für die Science Fiction postuliert hat, oder wie sie Teil der Progressiven Phantastik ist.

Der Deutschlandfunk hat sich wieder mal Solarpunk vorgenommen, wobei es mir eine gewisse Genugtuung bereitet, dass im Interview das Manifest mit Adam Flynn zugeschrieben wird. Eigentlich hat der „nur“ die „Notes towards a Manifesto“ geschrieben, aber ich bin voll dafür, sie als manifester anzusehen als das tatsächliche Manifest.

Einer traditionellen Sache hat sich Mary Stormhouse auf dem Wunderzeilen-Blog gewidmet: Hier versucht sie recht erfolgreich die verschiedenen Interpretationen zu Low Fantasy unter einen Hut zu bekommen. Bei ihrer Interpretation von Dark Fantasy gehe ich allerdings nicht mit, hier halte ich mich an die „Schule“ von Charles Grant, wonach Dark Fantasy „Fantasyhorror“ ist, nicht das düstere Gegenstück zur High Fantasy. Das wäre dann wiederum Grimdark. Auf die Verwirrungen in diesem Bereich bin ich 2022 in einem eigenen Blogpost eingegangen, und dabei fällt mir auch wieder ein, dass ein ergänzender Entwurf zur Entwicklung verschiedener Genres (inkl. Low Fantasy) schon länger auf die Veröffentlichung wartet. Vielleicht erblickt er im August das Licht der Welt, aber soweit ich mich erinnere gab’s da noch ein paar Knoten zu entwirren.

Anyway. Noch tiefer zum Ursprung ging es mit „Warum Fantasy?“, worin Christine Lötscher eine Lanze für die Meta-Traditionen des Genres bricht. Exotischer wurde es hingegen auf TOR Online, wo Swantje Niemann die hierzulande noch wenig repräsentierte Progression-Fantasy vorgestellt hat.

Beitragskarussell

Und wenn wir bei TOR Online sind: Ebenfalls von Swantje Niemann ging hier ein Beitrag über Imperien in der Fantasy online. Judith Vogt wiederum berichtete über Science-Fiction-Kurzgeschichten. Der darin erwähnte Aspekt der ersten Anthologie ist sicher strittig; in „Rediscovering French Science Fiction“ wurde diese Auszeichnung noch an „Voyages imaginaires, songes, visions et romans cabalistiques“ vergeben, erschienen 1787-1790 und damit fast 100 Jahre vor den von Judith genannten Titeln. Noch strittiger wurde es mit Lena Richters Beitrag zu „neuen und empowernden Ansätzen zu Behinderung und Krankheit in der Phantastik“. Das lag aber nicht am Inhalt, sondern weil jemand auf Twitter meinte, sich darüber echauffieren zu müssen, dass der Beitrag nicht aus Own-Voice-Perspektive geschrieben wurde. Mal abgesehen davon, dass das nicht stimmt, wiederhole ich mich an dieser Stelle gern: Wenn die Own-Voice-Diskussion verlangt, dass jeder sexuelle Orientierung, Gesundheitsstatus usw. offen legt, dann ist sie weitgehend für den Arsch 🙂 Und ob ihr’s glaubt oder nicht, selbst manch erfolgreicher Autor, der die Podien füllt, jährlich zwei Bücher rausbringt und scheinbar keinen Termin ausfallen lässt, ist deshalb noch lange nicht able-bodied (ich kann kaum glauben, dass ich das betonen muss …).

Was war sonst los? Julian Lucas schrieb im New Yorker über Samuel R. Delany. Liam Swayne produzierte Das Lied von Eis und Feuer-Fanfiction mit ChatGPT. Lea Korb beleuchtete die Rezeption mittelalterlicher Geschichte(n) in „Das letzte Einhorn“. Das Immobilienportal Rentola analyisierte, wo man in Deutschland gute Karten für das Überleben in Zeiten einer Zombie-Apokalypse hat (Aachener, flüchtet schnell in die Eifel!). Und Peter Schmitt schaute auf Skalpell & Katzenklaue auf die Bande zwischen Sword&Sorcery und altnordischen Sagas. What a time to be alive!

Eventkarussell

Ehe ich diesen Beitrag abschließe – ich habe so lang geschrieben, dass nun doch schon wieder der August hereingebrochen ist, haha –, noch ein kurzer Blick auf ein paar Events der vergangenen drei Monate. Es fand sehr viel Phantastisches statt: Comic-Festivals und Steampunk-Märkte, Rollenspiel-Cons und Online-Diskussionen, Lesungsabende und Phantastik-Ausstellungen. Eigene Beiträge habe ich bereits zu MetropolCon und re:publica veröffentlicht, und ich kann gerade gar nicht glauben, dass die erst so relativ kurz her sind, dass sie sogar noch in die Sommeransichten gehören … Jedenfalls stand danach für mich im Juni noch die FeenCon an, die zum zweiten Mal zur neuen Location nach Bonn-Beuel lud. Auch wenn die dortige IGS nicht so gut angebunden ist wie der frühere Standort, die Stadthalle Bad Godesberg, empfinde ich den Wechsel als gelungen. Traditionell ist es auf der FeenCon sehr heiß, weshalb das ausgedehnte, schattenreiche IGS-Außengelände gelegen kommt. Dass das Innengelände ebenfalls so ausgedehnt ist, bringt allerdings mit sich, dass man nach einigen Programmpunkten sehr aktiv suchen muss, wenn man sie nicht verpassen will. In der Schule, in der u. a. Spielrunden und die Verleihung der IdeenFee stattfanden, war es angenehm kühl, in der Ausstellerhalle brutzelte man hingegen vor sich hin. Was vermutlich einer der Gründe war, weshalb es hier vergleichsweise leer blieb.

Marktstände auf einem Außengelände zwischen Bäumen an einem sonnigen Tag. In der Mitte steht ein Stormtropper.
FeenCon 2023

Zum bereits dritten Mal hatte ich auf der FeenCon eine Lesung aus „Spielende Götter“ und wie schon 2019 habe ich das Ganze mit einem Quiz gekoppelt, bei dem das Publikum testen konnte, welche Charakterklasse es in Holus spielen würde. Wir haben eine schöne Truppe zusammen bekommen und auch sonst war es eine nette Lesung mit ein paar neuen Gesichtern. Wegen des Gaming-Themas bietet sich „Spielende Götter“ einfach gut für die FeenCon an, die ja in erster Linie eine Rollenspiel-Veranstaltung ist. Ob es noch ein viertes Mal sein muss, weiß ich allerdings nicht; allzu sehr sollte ich es nicht ausreizen … Mal schauen, was 2024 bringt.

Nach all der Action war ich ganz froh, dass es auch noch Online-Veranstaltungen gibt, und habe mir am 5. Juli die Zoom-Diskussion „Die Kraft der Utopien“ angeschaut, an der u. a. Klaudia Seibel und Klaus Farin teilgenommen haben. Nicht allem, was hier gesagt wurde, würde ich vorbehaltlos zustimmen, aber ich habe einige interessante Impulse mitgenommen. Bedenkenswert fand ich z. B. den Hinweis, dass in der Praxis vor allem materialistische Utopien wie das Metaverse eine Rolle spielen, allen Idealen zum Trotz. Die Diskussion lässt sich über YouTube nachschauen, Link s. o.

Am 15. Juli bin ich dann noch nach Geislautern ins Saarland gefahren, um auf der Vegan Fantasy Fair einen Vortrag über surreale Fantasy, Weird Fiction und Dreampunk zu halten. Leider fiel die Veranstaltung ziemlich ins Wasser. Später haben sich zwar zumindest für die Food-Stände noch viele Besucher erwärmen können und es waren auch einige Cosplayer unterwegs. Die Verkaufsstände wirkten allerdings etwas verloren im Regen und zu den Vorträgen und Lesungen haben sich nur wenige Leute verirrt, jedenfalls soweit ich das mitbekommen habe. Bei mir waren vier Leute. Wobei das Thema auch zu speziell für die Veranstaltung war, ich hatte das Publikum hier als Buch-zentrierter eingeschätzt.

Cartoonartiges Bild in gedeckten Farben mit der Überschrift "Human Garden". Ein blauer Baum in Stöckelschuhen und mit Schürze gießt Menschenblumen mit Wein-Gießkanne.
„Human Garden in Arbonia“ von Hernán Kirsten: Eines der Beispiele, auf die ich im Vortrag auf der Vegan Fantasy Fair eingegangen bin. (Bild unter CC BY NC-ND 2.0 via Flickr)

Neue Chancen gibt’s im Herbst: Auf den bereits erwähnten Wetzlarer Tagen der Phantastik vom 8. bis 10. September mit dem Schwerpunkt Climate Fiction halte ich dieses Jahr einen Vortrag zu Solarpunk.* Und im Oktober finden dann ja auch wieder Frankfurter Buchmesse und BuCon statt. Ob ich dort Panels habe, steht noch nicht ganz fest, wahrscheinlich schon – die Infos findet ihr dann wie immer im Termin-Bereich. Und als Besucherin plane ich so oder so dort zu sein. Ich hoffe, man sieht und liest sich! Bis dahin, macht’s gut.


*Nach dem Essay über Solarpunk in der „Sonnenseiten„-Anthologie hatte ich mir eigentlich vorgenommen, das Thema ruhen zu lassen und mich neuen Genreufern zu widmen. Aber irgendwie … ruht das Thema selbst halt nicht. Der Vortrag in Wetzlar werden Stand Jetzt auch nicht meine letzten zwei Cent dazu sein, so viel sei schon mal gespoilert.

Text (ohne Bilder) unter CC BY SA 4.0; freue mich über Ko-Fi-Support