Winteransichten 2023

Winteransichten 2023

31. Januar 2023 2 Von FragmentAnsichten

+ Szeneansichten 2022

Vor einem Jahr habe ich die vorerst letzten Monatsansichten veröffentlicht – dafür gibt es nun aber die ersten Winteransichten!

Was war: Szeneansichten

Ehe ich dazu komme, sind jedoch die dezent verspäteten Szeneansichten fällig. Ursprünglich war ein eigener Beitrag geplant, aber ich möchte keine längst geklärten Dispute aufwärmen, halte es daher allgemein: In seinem Jahresrückblick schrieb Ralf von SF-Lit, dass sich 2022 wie ein „Übergangsjahr“ angefühlt habe, und dem kann ich nur zustimmen. Der Weg zurück in die Präsenz der Cons und Messen hat Fahrt aufgenommen, was Vor- wie Nachteile mit sich bringt. Auf jeden Fall aber sind wir uns wieder häufiger über den Weg gelaufen, was vielleicht einer der Gründe ist, weshalb die großen Diskussionen in Foren und Social Media 2022 meinem Empfinden nach keine ganz so große Schlagkraft hatten wie in den Jahren zuvor. Oder die Weltpolitik hat uns von der Szenepolitik abgelenkt. Oder, das ist wohl die positivste Lesart, die Bubbles haben sich ein wenig … nun ja, aufeinander zu bewegt. Ich sehe z. B. eine hohe Symbolkraft darin, dass 2022 „Memories of Summer“ von Janna Ruth sowohl für den DSFP als auch für den KLP nominiert war. Immerhin ist das Buch bei Moon Notes erschienen und auch optisch weit von den Gewohnheiten der „traditionellen“ SF-Szene entfernt. Dass es gleichwohl so viel Aufmerksamkeit erhalten hat, sehe ich insofern als gutes Zeichen, dass der Blick über den Tellerrand keine Utopie mehr ist.

Dennoch bleibt die Phantastikszene ein Sammelsurium vieler Subszenen, was erstens typisch für Szenen und zweitens auch völlig in Ordnung ist. Ich wünsche mir nur weiterhin mehr Bewusstsein dafür, gerade wenn es um Einschätzung irgendwelcher Relevanzen oder um Genre-Preise geht.

Einen bestimmten Trend fürs letzte Jahr mache ich nicht aus. Die Sword & Sorcery erlebte weiterhin ein gewisses Revival, ebenso blieben Utopie- und CliFi-Diskussionen ein Ding und nicht zuletzt etablierte sich Dark Academia als eigene Spielart. Aber den großen Hype oder eine neue Bewegung wie in den letzten Jahren mit Hopepunk oder Progressiver Phantastik, sehe ich aktuell nicht am Horizont. (Nicht, dass sich das nicht schnell ändern könnte.)

Massenmedial war es dank großer Serien wie „Rings of Power“ oder „House of Dragons“ ein gutes Jahr vor allem für die Fantasy – immerhin sind dadurch auch außerhalb der Szene-Medien viele Artikel mit einschlägigem Fokus erschienen. Über einige davon kann man inhaltlich zwar nur den Kopf schütteln, wenn man etwas tiefer im Metier steckt, aber immerhin haben sie für lebendige Diskussionen gesorgt.

Insofern: Auch wenn es 2022 genug zum Aufregen gab, fällt mein Rückblick positiv aus. Trotzdem liegt da sicher noch was in der Luft. 2022 war ein Übergangsjahr – wie es 2023 nun weitergeht, ist noch lange nicht entschieden.

Was (in jüngerer Zeit) ist: Winteransichten

Anhaltspunkte liefert uns gleichwohl der Blick auf die vergangenen drei Monate. Genremäßig zeigen sich da schon mal ein paar (teils nicht ganz so) neue Trends: Peter Schmitt stellte auf Skalpell & Katzenklaue im Detail das Sword&Sorcery-Movement New Edge vor. Das Literaturforum im Brecht-Haus gab eine Literaturliste zu Progressiver Phantastik heraus. Mit Blick für seine vielen Facetten ging Stacey Balkan der Frage nach, ob Solarpunk die Welt retten kann. Und Judith Madera erklärte auf TOR Online, wie sich die längst etablierte Romantasy im Laufe der Zeit ausdifferenziert hat.

Und wo wir gerade bei TOR Online sind: Sebastian Ella Gräff beschrieb dort, wie er*sie zur Phantastik fand. Christan Endres stellte „Wednesday“ in den passenden Kontext. Und von mir ging im November ein Artikel über Druiden online. Wer hier schon länger liest, weiß um meine frühere Obsession für keltische Mythologie und Celtic Fantasy; dank der war es mir hier noch mal wichtiger als ohnehin schon, nicht nur über Asterix und Co. zu reden, sondern auch über den Rattenschwanz an Geschichte und Mythologisierung, der daran hängt. Letztlich bin ich in ein Kaninchenloch gefallen und hätte drei Mal so viel drüber schreiben können, aber es soll ja auch noch jemand lesen – der Beitrag wurde eh schon länger als geplant. An dieser Stelle übrigens noch ein Dank an Peter, der mir mit seinem schier unerschöpflichen Pulp-Wissen ausgeholfen hat, als es um die Frage der Darstellung von Druiden in einschlägigen Veröffentlichungen ging.

Ein an Stonehenge und andere Steinmonolithen erinnernde magischer Steinkreis,mdessen Runen rot aufleuchten. Ein gespenstisches helles Licht scheint sich gerade seinen Weg zu bahnen.
Na, wenn hier mal kein Fantasydruide am Werk war! („Twilight Gate“ von KoTnoneKoT unter CC BY NC ND 3.0 via DeviantArt)

Auf Peters Blog wiederum ging neben jenem zu New Edge u. a. ein Beitrag online, in dem er sich dem berüchtigten D&D-Modul „Palast der Silberprinzessin“ und damit zusammenhängend der ablehnenden Haltung gegenüber weiblichen Spielerinnen in der Frühzeit des Pen&Paper widmete. Ein Thema, mit dem sich sicher ganze Bücher füllen ließen. Ich erinnere an dieser Stelle immer gern an Gary Alan Fine, der noch 1983 in seiner Ethnographie „Shared Fantasy“ stockernst behauptete, Frauen fehle es für Pen&Paper an Fantasie. Sein Werk zählt bis heute zu den soziologischen Standardwerken in Sachen Rollenspiel.*

Repräsentationsdebatten und die Frage, wie marginalisierten Gruppen mehr Raum und Gehör verschafft werden kann, werden sicher auch in diesem Jahr wieder eine große Rolle spielen. Viel wurde bereits getan, an zahlreichen Stellen ist dennoch Luft nach oben. Aktuell zeigt das etwa die Debatte um eine Börsenblatt-Veranstaltung zu Sensitivity Reading. Eine verwandte und doch ganz andere Perspektive bot Cathy Reay in einem Beitrag für den Guardian, der das Für und Wider „typischer“ Fantasyrollen für kleinwüchsige Darsteller*innen behandelte.

Keine guten News gibt es vom Fantasie- und Rollenspielkonvent (FaRK): Die ehrenamtlich organisierte Veranstaltung mit karitativem Zweck wird wegen Finanz- und Standortproblemen zunächst nicht mehr stattfinden. Nach mehreren Jahren in den Wassergärten Reden zog der FaRK 2022 nach Losheim um, was jedoch ungünstig zu den Wohnorten der ehrenamtlichen Helfer liegt. Eine Rückkehr nach Reden oder ein Umzug in den Saarbrücker Stadtpark scheiden einem Interview mit der Saarbrücker Zeitung zufolge wegen Baumaßnahmen aus. Schade – aber es bleibt die Hoffnung, dass es kein Abschied für immer ist.

Weniger Optimismus verspüre ich da beim Verlag Dancing Words, der im Dezember überraschend sein Ende via Instagram verkündet hat. Trotzdem gibt es auch erfreuliche Meldungen aus dem Verlagsbereich: Mit Melanie Schneiders Weltenruder ist ein neuer Verlag an den Start gegangen, der sich nach eigenen Angaben auf „neuartige, progressive und diverse Texte“ spezialisiert.

Neuigkeiten gibt es darüber hinaus aus dem Bereich der Auszeichnungen und Awards: 2023 wird erstmals der Rein A. Zondergeld-Preis (RAZ) für Sekundärliteratur in Zusammenarbeit mit dem Vincent Preis verliehen. Nominierungen sind in zwei Kategorien („Buch“ und „Kurztext“) bis zum 28. Februar möglich, pro Person und Kategorie können drei Titel vorgeschlagen werden. Weitere Informationen zum Ablauf findet ihr auf Treffpunkt Phantastik. Dort kann man ebenso eine Sammlung an potenziell nominierbaren Texten herunterladen. (Ich tauche in der Vorschlagsliste nicht auf, hätte aber, soweit ich das überblicke, aus 2022 auch zwei potenziell nominierbare Essays für die Kurztexte am Start („Sonnenseiten, Sonnenzeiten“ und „Von Mythpunk bis amazofuturismo„); just sayin‘.)

Eine Trauermeldung gab es leider von ModernPhantastik: Am 2. November ist Rico Gehrke verstorben, der den für seine SF-Anthologien bekannten Verlag gemeinsam mit seiner Frau Peggy Weber-Gehrke führte. Der Verlag pausiert.

Was wird

Damit enden die ersten Quartalsansichten des Jahres. Und wie geht es weiter?

Hier wird die Tage noch ein Blogpost zu französischer SF online gehen und dann geht’s auch bald los mit der 2023er-Ausgabe des Klassiker-Rereads. Da nun „Age of Wonders 4“ angekündigt wurde, hoffe ich außerdem, bis Mai die Blogposts zu „Age of Wonders 3“ fertig zu bekommen (:D) und ein paar andere Sachen sind auch noch in vager Planung. Die Quartalsansichten werde ich ebenfalls fortführen; ab und zu vermisse ich die Monatsansichten, die natürlich schon aktueller und inhaltlich dichter waren. Aber halt auch deutlich zeitaufwändiger, und solange der Blog ein nicht-monetäres Hobby und mein Ko-Fi verwaist bleiben, haben dann doch andere Dinge Vorrang.

Wenn nicht wieder Viren oder andere mehr oder weniger unvorhergesehene Dinge dazwischen kommen, werde ich 2023 auch wieder einige Cons und Festivals besuchen. Anvisiert sind derzeit MetropolCon, re:publica, Wetzlarer Tage der Phantastik, FBM, BuCon und evtl. FeenCon sowie Amphi. Außerdem wird’s im März/April mal wieder ganz klassisch eine Lesung geben, aber dazu zu gegebener Zeit mehr.

Romantechnisch wird es Stand Jetzt ebenfalls im Laufe des Jahres mal wieder was Neues zu berichten geben. Bis dahin könnt ihr aber „Spielende Götter“ kaufen, was es nun auch endlich und wirklich als Print gibt, wenn auch noch nicht über alle Shops.

Bis dahin, man liest sich.


*Exkurs: Auf Mastodon hatte ich im Zuge einer Diskussion zu Big Bang Theory die Theorie aufgebracht, dass das deutschsprachige „Nerdtum“ (vornehmlich bezogen auf Comic- und Rollenspielszene) 2007 bereits frauenfreundlicher gewesen sei bzw. einen höheren Anteil an Frauen / weiblich gelesenen Mitgliedern hatte als in den USA. Zu dem Zeitpunkt war ich 17 und habe mit meinen Freundinnen sowohl Pen&Paper gespielt als auch die Manga-Ecken von Comicläden durchstöbert. Falls das sehr ungewöhnlich war, hat es uns niemand gesagt. Dass die Phantastikszenen ihre Probleme mit sexistischen und misogynen Untertöne haben, ist davon unbenommen und ich will meine geschilderten in dieser Hinsicht positiven Erfahrungen auch nicht verallgemeinern. Außerdem kann ich nicht sagen, wie realistisch das BBT-Klischee von „Frauen gehen nicht in Comicläden“ 2007 überhaupt noch in den USA war. Trotzdem halte ich es für plausibel, dass u. a. der Cosplay-Trend, der hierzulande große Erfolg von „Vampire: The Masquerade“ und vielleicht auch die geringere Tradition die Verhältnisse aufgelockert haben. (Der 2010er-Ausgabe von „Leben in Szenen“ zufolge waren damals 70-80 % der Cosplayer weiblich, in der Rollenspielszene lag der Anteil bei 10 %, im LARP bei 25 %; Fine wiederum nennt für die USA einen Wert von 3 %, aber ich schätze, 2010 dürften hier auch schon andere Werte gegolten haben.)