Herbstansichten 2022
Über Mythologie aus Japan, Phantastik aus Luxemburg, punkige Werke und Werte, Blicke in die Vergangenheit, alte und neue Debatten und vieles mehr.
Die Blätter fallen, die Toten kriechen aus den Löchern und der Wald ist weg. Es naht Halloween und wenngleich ich noch nicht weiß, ob dieser Blogpost vorher noch erscheint [Edit 01.11.: nope], soll das doch nicht unerwähnt bleiben. Halloween heißt auch, dass drei Monate seit den letzten Quartalsansichten vergangen sind, es also an der Zeit für die Herbstauflage ist.
Traditionell fange ich an dieser Stelle mit einem Blick auf vergangene Awards und Veranstaltungen an. Aber das wird so langsam repetitiv, also fangen wir stattdessen anders an.
Die Anderswelt nebenan
Wer mich ein bisschen kennt, weiß, dass mir die Beschäftigung mit internationaler, insbesondere auch nicht-angloamerikanischer Phantastik sehr wichtig ist. Entsprechend freut es mich, in den vergangenen drei Monaten auf mehrere entsprechende Beiträge gestoßen zu sein: Auf dem Blog Usagitsune berichten Künstlerin Megumi M. und die Autorin Ellen A. Korei seit August in regelmäßigen Abständen über japanische Mythen und Legenden. Ebenfalls im August ging das Online-Magazin Aner Welten an den Start, das sich auf luxemburgische Phantastik spezialisiert hat. Auf Woxx ist ein Interview mit den beiden Herausgebenden Sandy Heep und Cosimo Suglia erschienen. Interessant fand ich hier z. B. den Punkt, dass sich die lokale Szene erst seit ca. zehn Jahren entwickelt. Vor längerer Zeit hatte ich Kim ten Tusscher interviewt, die damals Ähnliches über die niederländische Fantasy sagte. Meine These ist, dass das viel mit dem erleichterten Zugang zu digitalen Publikationsmöglichkeiten und damit zusammenhängend dem Aufstieg von Kleinverlagen, Online-Magazinen und Selfpublishing zu tun hat, was ja tatsächlich erst Anfang der 2010er so richtig ins Rollen kam. Weltweit dürfte das die Dominanz nicht-englischsprachiger Phantastik aufgeweicht haben.
In Bewegung
Ebenso brachte uns diese Entwicklung die Mithila Review, die kürzlich eine Themen-Ausgabe zu Hopepunk veröffentlicht hat. Dazu habe ich mich in einem eigenen Beitrag ausgelassen. Apropos Hopepunk: Für die 9. Ausgabe der Queer*Welten habe ich einen Essay namens „Von Mythpunk bis amazofuturismo: Warum Mikrogenres und Movements die Phantastik facettenreicher machen“ beigetragen. Wie der Name schon sagt, argumentiere ich darin, dass Mikrogenres, Movements usw. die Phantastik zwar einerseits ausfasern, aber andererseits dafür sorgen, dass diversere Perspektiven sichtbar(er) werden. Natürlich gibt es dazu auch einige Beispiele. Da die Ausgabe einen Schwerpunkt zu Meereswesen hat – und hierzu einige Kurz- und Kürzestgeschichten bereithält – rede ich z. B. ein wenig über Oceanpunk. Weil Catherynne M. Valente ein paar nützliche Worte von sich gegeben hat, wenn es um Movements geht, kommt ihr Mythpunk sogar schon im Essay-Titel vor. Und quasi als Gegenpol darf squeecore noch mal einen Auftritt haben. Aber vor allem habe ich das Ganze als Ausrede genommen, mich intensiv mit brasilianischer Science Fiction und Fantasy zu beschäftigen. Dort treibt die Movementisierung bereits seit den 80er Jahren faszinierende Blüten, und hat zuletzt u. a. unter dem Eindruck des Bolsonarismus (Bolsonaros Abwahl dürfte bei vielen Autor*innen für Erleichterung sorgen) noch mal zugenommen. Das ist auch in Bezug auf den Solarpunk interessant, zu dem ich kürzlich ebenfalls einen Essay beigesteuert habe. Literarisch hat der bekanntlich seinen Anfang in Brasilien genommen. Während er im westlichen Diskurs aber gerne als radikal utopische Literatur gedacht wird, was zu allerlei „wie bekomme ich Konflikt in meine Solarpunk-Storys“-Debatten geführt hat, ist der brasilianische Solarpunk so heimelig wie ein Ritt durch die Hölle. In der legendären Lodi-Ribeiro-Anthologie wird nicht gespart an Tod und Gewalt, was dem tupinipunk-Erbe zu verdanken sein dürfte. Aber für mehr Infos müsst ihr dann doch die Essays lesen. Plus meine Quellen, die ihr für den Queer*Welten-Text oben verlinkt findet.
Mit Mithila Review und den Queer*Welten sind wir bei den Magazinen angelangt und biegen damit offiziell ab zur angloamerikanischen SFF.
Mit New Edge gibt es seit kurzem ein Magazin, das sich auf Sword & Sorcery spezialisiert hat. Zugleich ist New Edge der Name eines neuen Movements (ha!), das bereits im April von Scott Oden ausgerufen wurde. Der Dank für den Hinweis darauf gilt Peter, und auf dessen Blog Skalpell und Katzenklaue regnete es ebenfalls wieder spannende Beiträge zu Sword-&-Sorcery-Romanen und -Filmen: Da ging es um Richard L. Tierneys „The Drums of Chaos„, den finalen Beitrag zu Tierneys „Simon of Gitta“-Bänden, und schließlich um die Leinwand-Kerle „Hawk the Slayer“ und „Ator l’invincible„.
Zurück schauen
Gerade wenn es um die Filme geht, schwingt ein Hauch (gleichwohl reflexiver) Nostalgie mit, und das ist ein gutes Stichwort, um auf Jasper Nicolaisens frisch veröffentlichten Artikel auf 54books zur Fighting Fantasy-Reihe zu verweisen. Die sagte mir bisher nur vom Namen was, schätze, dafür bin ich dann doch ein paar Jahre zu spät geboren. Aber weil es zu Ende des Artikels ein bisschen so klingt, als sei diese Art von Spielbüchern zumindest hierzulande kaum noch ein Ding, sei noch erwähnt, dass sie in den letzten Jahren z. B. über den Mantikore-Verlag schon ein kleines Comeback gefeiert haben (auch wenn große Berichterstattungen in SZ usw. in der Tat fehlen). Ich habe dieses Prinzip seinerzeit über LTBs kennen- und schätzen gelernt.
Um Vergangenes drehte sich ebenfalls ein Blogpost von Norbert Fiks, der sich die Wolfgang-Jeschke-Anthologie „Fernes Licht“ aus dem Jahr 2000 noch einmal zu Gemüte geführt hat. In dem Zusammenhang stellte er nicht nur fest, dass es seither einen Mangel an Übersetzungen preisgekrönter englischsprachiger Kurzgeschichten gibt, sondern auch, dass eine dem „Ferne[n] Licht“ vergleichbare Anthologie mit deutschsprachigen Kurzgeschichten schwierig umzusetzen wäre.
Noch weiter in die Vergangenheit (und zugleich in die Zukunft) blickte man wiederum auf Litteratur.ch, wo die Serie „Raumpatrouille (Orion)„, dessen Militarismus und fehlende Stringenz beleuchtet wurden.
Ringdebatte
Zum Beef zwischen Gegenwart und Vergangenheit kam es über all die Diskussionen in Zusammenhang mit der „Rings of Power“-Serie von Amazon und teils auch HBOs „House of the Dragon“. Ich habe das nur am Rande verfolgt – beides sind weder meine Fandoms noch meine Streaming-Seiten. Aus Tweets mitgenommen habe ich, dass irgendwas mit Sauron war. Aus Artikeln, dass „Rings of Power“ als progressiver Move für Fantasy verstanden wird. Nun will ich das nicht allzu sehr in Frage stellen, ohne die Serie geschaut zu haben, aber hm, wenn basic diversity schon dafür ausreicht, muss es übel stehen um die Progression der phantastischen TV-Landschaft.*
Während die Taz aber noch mal nicht mitbekommen hat, dass es eine recht lebendige deutschsprachige Fantasy-Produktionsszene gibt, hat Die Wochenzeitung im Zusammenhang mit den „Rings of Power“-Diskussionen immerhin Vertreter*innen des Progressive-Phantastik-Movements zu Wort kommen lassen.
Die Frage, wie rechts oder links nun Tolkiens Werk selbst ist, hat zuletzt auch dadurch Aufwind bekommen, dass sich Italiens neue, dem Neofaschismus verbundene Ministerpräsidentin Meloni ebenso „Der Herr der Ringe“ (sowie Fantasy und Mangas generell) verbunden zeigt. Auf Twitter hat das einige gruselige Takes hervorgebracht, na klar. In der NZZ wiederum befand Wolfgang M. Schmitt, Tolkiens Fantasy sei ideologisch, jedoch weder rechts noch links. Letztlich ist das eine Neverending-Diskussion, auf diesem Blog gehört ein älterer Beitrag zu dieser Frage sogar nach wie vor zu den beliebtesten, was mir manchmal zu denken gibt. Anzuerkennen, dass sich „Der Herr der Ringe“ auf verschiedene Arten lesen und nachempfinden lässt, je nachdem, welche Perspektive man gerade einnimmt, ist letztlich wohl das sinnvollste, was man tun kann. (Was übrigens ebenso für ähnliche Diskussionen gilt, etwa zu „Die Tribute von Panem“.)
Marketing- und Autorenansichten
Während in den traditionelleren Teilen der Phantastikszene die Tolkien-Diskussionen heiß liefen, waren Bookstagram und BookTok im September damit beschäftigt, dass sich die neue Auflage der „Tintenherz“-Trilogie für ein minimalistisches und recht grelles Design entschieden hat. Inwiefern sie zur Reihe oder zur Zielgruppe passen, kann ich nur bedingt beurteilen. An sich weiß ich es aber zu schätzen, wenn mal auf weniger ausgetretenen Pfaden gewandelt wird. Ein differenzierter Beitrag zur Debatte, in dem man zudem die alten und neuen Cover vergleichen kann, ist auf Hopes Universe erschienen. Da die Bücher mit neuem Cover, aber ohne Seiteninhalt auf der Frankfurter Buchmesse ausgestellt wurden, kam der Gedanke auf, dass es sich hierbei schlicht um einen Marketinggag gehandelt haben könnte. Für Aufmerksamkeit hat die Diskussion auf jeden Fall gesorgt. Und um noch kurz bei Cornelia Funke zu bleiben: Deren Illustrationen kann man noch bis März 2023 im Bilderbuchmuseum Troisdorf anschauen (danke für den Hinweis an @metaphernpark).
Damit sind wir dann nun doch bei den Events angekommen. Derer fanden wieder einige statt, darunter übliche Verdächtige wie FBM und BuCon oder die Dragon Days Stuttgart, aber auch Neulinge wie die POTT Phantastika im Unperfekthaus Essen. Im September lud die Phantastische Bibliothek Wetzlar zu den Wetzlarer Tagen der Phantastik, dieses Mal viertägig und mit dem Thema „Melancholie, Manie und Mord: Phantastik und Wahnsinn in Literatur, Kunst und Film„. In diesem Rahmen wurde der städtische Phantastik-Preis verliehen, der in diesem Jahr an Sabrina Železný und ihren Roman „Kondorkinder“ ging. In der auf ihrem Blog nachlesbaren Dankesrede setzt sie sich damit auseinander, welche Perspektive sie selbst auf die indigenen Inhalte aus Peru und dem Andenraum nehmen kann, die sie in ihrem Buch behandelt. Ein differenzierter Beitrag in der Debatte um Own Voice und Repräsentation (mit der sich Ethnologie und Kulturanthropologie schon lange auseinandersetzen müssen).
Karl-Heinz Witzko verstorben
Die letzte Meldung dieser Quartalsansichten ist leider eine traurige: Am 29. September ist Karl-Heinz Witzko verstorben. Bekannt wurde Witzko vor allem durch seine Mitarbeit an Das Schwarze Auge, er schrieb dafür mehrere Romane und Abenteuer. Jedoch veröffentlichte er auch davon unabhängig Fantasyromane, z. B. „Die Kobolde“ oder „Dämon wider Willen“.
Willkommen im November
Das war’s mit den Herbstansichten. Erwähnt sei, dass Anfang Dezember die überarbeitete Neuauflage meines Romans „Spielende Götter“ im Verlag ohneohren erscheint. Dazu folgen noch nähere Infos, aber ich wollte es schon mal erwähnt haben. Bis dahin, man liest sich.**
*Nebenher: Gab es eigentlich auch Diskussionen, als Kristen Wilson 2000 für den ersten Dungeons&Dragons-Film als Waldelfe gecastet wurde? Ist keine Suggestivfrage, ich frage mich wirklich, ob das damals eine Debatte ausgelöst hat oder von PoC gespielte Elfen nur unter Tolkienisten und/oder dem Einfluss von Social Media und anderen aktuellen Debatten so ein hot topic sind. (Wobei ich mich zugleich frage, ob im D&D-Kontext die potenziell vorhandene Assoziation von Waldelfen als Schwarz wiederum rassistische oder kolonialistische Motive verbunden sind. Kenne mich mit D&D zu wenig aus, um das beurteilen zu können.)
**Seit Juni kann man mich übrigens auch auf Mastodon lesen: @fragmentansichten@troet.cafe
[…] zur sehr vielfältigen brasilianischen Phantastik gefallen (woraus u. a. mein Queer*Welten-Essay „Von Mythpunk bis amazofuturismo“ resultiert ist). Ohne die Möglichkeit der Autoübersetzung vieler portugiesischer Texte wären […]