Das pragmatische Utopia …

Das pragmatische Utopia …

14. Juli 2020 17 Von FragmentAnsichten

… aus Roberta Spindlers „Sun in the Heart“

[der Beitrag enthält essentielle Spoiler zu „Sun in the Heart“]

Vor anderthalb Wochen fand die FeenConline statt, die digitale 2020er-Variante des FeenCon. In deren Rahmen habe ich sonntags gemeinsam mit der Illustratorin Don Kringel, dem Schriftstellenden-Ehepaar Judith und Christian Vogt sowie Moderator Oliver Bayer an einer Diskussion zum Thema Utopien bzw. Hope- und Solarpunk teilgenommen.

Auch wenn man das Thema sicher noch hätte munter ausweiten können, war ich froh, einige Punkte anbringen zu können, die mir bisher oft zu kurz kamen. Dazu gehört auch der Aspekt, dass insbesondere Solarpunk zunächst gar nicht so „utopisch“ (im Alltagssinne) daherkommt. Es geht nicht unbedingt darum, einen „besseren“ oder gar perfekten Ort zu erschaffen. Es geht eher darum, überhaupt einen Ort zu erschaffen, an dem die Menschheit auch in Zukunft noch leben kann.

Im Vorwort der englischsprachigen Ausgabe der brasilianischen „Solarpunk“-Anthologie von Gerson Lodi-Ribeiro schreibt Sarena Ulibarri, Chefredakteurin der u. a. auf Solar- und Decopunk spezialisierten World Weaver Press:

The stories in this anthology are far less utopian and pastoral than most of the English-language solarpunk I’ve read. […] [S]everal of the stories show that just because a corporation or a government is „green“ doesn’t mean it’s free of corruption. […] Americans tend to associate it with liberalism and left-wing ideology – the very idea of a world run primarily on renewables is often dismissed as idealistic and utopian. Brazil is actually one of the world’s leaders in renewable energy, with 76% of the country’s energy in 2017 coming from wind, solar, and hydropower.Brazil’s political landscape, however, is certainly not a liberal utopia. […]“

Sarena Ulibarri in „Solarpunk: Ecological and Fantastical Stories in a Sustainable World“, S. 2/3

Dennoch wohnt auch vielen dieser früheren brasilianischen Solarpunk-Werke ein gewisser utopischer Geist inne, aber er ist pragmatischer als der (jüngerer) englischsprachiger Solarpunk-Geschichten.*

Wie genau man sich das vorstellen kann, zeigt etwa die in der Anthologie enthaltene Kurzgeschichte „Sun in the Heart“ von Roberta Spindler. In der Zukunft haben Wissenschaftler*innen hier Implantate entwickelt, welche optisch Tätowierungen ähneln. Sie ermöglichen es den Menschen nicht nur, frei von Nahrungsbedürfnissen zu leben, sondern dienen auch dazu, die agressiven Sonnenstrahlen in „positive“ Energie umzuwandeln, was den Implantatbesitzenden u. a. ein längeres und gesünderes Leben ermöglicht. Im Prinzip haben sich die Menschen also in optimierte biologische Solaranlagen verwandelt. Eine Solarpunk-Fantasie par excellence, die gleich für mehrere mit dem Klimawandel einhergehende Probleme globale Lösungen gefunden hat.** Allerdings sind die Implantate noch nicht zwingend nötig zum Überleben; sie machen in erster Linie den Alltag angenehmer, unabhängiger und schützen vor den Gefahren durch die Sonne.

Die Handlung folgt nun einem Tag im Leben von Laura und Lúcio, deren gemeinsamer Sohn Élio heute sein erstes Implantat erhalten soll. Er ist spät dran für sein Alter, da er sich gerade erst von einer vorangegangenen Leukämie-Behandlung erholt, die seinen Körper geschwächt hat. Entsprechend sind die Eltern in Sorge, ob er die OP gut verkraften wird.

Während des Eingriffs kommt es zum Streit zwischen dem Ehepaar. Wir erfahren, dass Lúcio gegen das Implantat war. Es ist ihm zu risikoreich, zudem wird es dem Sohn – wie allen Implantattragenden – die Möglichkeit nehmen, normale Nahrungsmittel zu genießen. Laura hat für diese Bedenken allerdings wenig Verständnis. Sie stammt aus einer ärmeren Familie, für die die Entscheidung über das teure Implantat eine um Leben und Tod war. Erstmals erzählt sie ihrem Mann von ihrem jüngeren Bruder, der als Teenager an den Folgen einer Sonneneruption starb; hätte sich die Familie rechtzeitig ein Implantat leisten können, hätte ihm die Eruption nichts ausgemacht. Der Streit ist heftig und hinterlässt vor allem Lúcio aufgewühlt. Doch das Ende ist versöhnlich, wir erleben, wie sich die junge Familie gemeinsam in der Sonne „auflädt“. Élios OP ist geglückt.

Die Geschichte enthält mehrere dystopische Elemente: Die auf die Dauer lebensrettende Technologie der Implantate ist nur für Wohlhabende finanzierbar. Zwar steht den übrigen der Zugang zu den verbliebenen Nahrungsmitteln frei, wodurch sie höheren Genuss erfahren, doch die Schattenseiten sind eine deutlich verkürzte Lebensdauer und eine ständig erhöhte Gefahr potenziell letaler Krankheiten. Und trotzdem erzählt auch „Sun in the Heart“ eine Utopie. Die Menschheit hat irgendwie das Beste aus der Situation gemacht, auch wenn diese Verzicht mit sich bringt und die Gleichheit der Menschen (noch) Ideal bleibt. Um es mit Lúcios Fazit am Ende der Geschichte zu sagen: „For the moment, being alive is enough.“

Hopepunk ist Idealismus, der Traum von gerechten Gemeinschaften. Aufrichtig, naiv, dabei zuweilen kitschig und vielleicht auch anstrengend – zugleich aber wichtig als ethische Utopie im Wortsinne. Solarpunk ist demgegenüber eine pragmatisch-kosmopolitische und optimistische Vision. Nicht ohne Probleme, nicht ohne Widersprüche, und mehr ein Weg denn ein Ziel. Aber insofern auch realistischer für unsere Zeit und unsere Gesellschaft, die den Streit der Eltern derzeit auf vielen Ebenen führt.

Eine der Flaggen des Solarpunk-Movements. Gelb steht für Sonnenenergie, Grün für Nachhaltigkeit (Bild von Starwall@radicaltown unter CC BY SA 4.0 via Wikipedia)

*Wohlgemerkt gilt das dennoch nicht für alle Geschichten aus der Anthologie. Man merkt, dass es sich hier um eine Anthologie aus der Frühzeit des Movements handelt und die Autor*innen atmosphärisch freier an ihre Themen herangegangen sind. Manche der Geschichten sind sehr cyberpunkig oder gehen sogar Richtung Grimdark (z. B. Telmo Marçals „When Kingdom’s Collide“).
**wenn auch diese sehr fantastisch gedacht sind