Veränderungen und stuff pt. 3: Kai Meyer

Veränderungen und stuff pt. 3: Kai Meyer

18. Mai 2020 7 Von FragmentAnsichten

Über Veränderungen des Phantastik-Markts in Deutschland, Marketingkrisen, späte Fortsetzungen, Herausforderungen angesichts von Corona und vieles mehr.

Das Klischee, dass es einen zur Außenseiterin mache, Fantasy oder überhaupt Bücher zu lesen, ist ja noch recht weit verbreitet. Zumindest für meine mit „Harry Potter“ aufgewachsene Generation gilt das aber kaum noch. Mit meiner Vorliebe für Drachenlanze und den alten 80er/90er-Jahre-Kram war ich in der Schule dennoch eine Exotin. Um bei den Schulhof-Diskussionen mitreden zu können, fing ich daher an, auch einige der Sachen zu lesen, die damals dort angesagt waren – neben „Harry Potter“ zum Beispiel „Der Goldene Kompass“ oder „Die Fließende Königin“.

Letzteres war dann mein erster bewusster Schnittpunkt mit Kai Meyer* und ich empfand das insofern als bemerkenswert, weil er zwar nicht der erste deutschsprachige Fantasyautor in meinem Bücherregal war, aber doch der erste „greifbare“. Man konnte ihm auf Messen begegnen, ihm Fragen in seinem Forum stellen. Vor dem Boom von Social Media war das durchaus eine Besonderheit.

Auch fast zwanzig Jahre später kann man Kai getrost zu den (auch international) erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren zählen. Neben Romanen und Romanreihen wie „Die Alchimistin“, „Die Seiten der Welt“ oder „Die Krone der Sterne“ verfasst er auch Drehbücher und Skripte zu Audible-Hörspielen wie „Imperator“. Mehrere seiner Werke wurden u. a. als Comics adaptiert, zudem hat er mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den SERAPH für „Asche und Phönix“ sowie die Corine für „Frostfeuer“.

Kai Meyer (© Stefan Freund)

2017 war er Teil der Roundtable Discussion, die ich für die Mithila Review über den Stand der deutschen SFF geführt hatte, im selben Jahr interviewte ich ihn für eines der Mephisto-Sonderhefte zu seinen Auslandsübersetzungen. Seitdem planen wir schon, auch mal ein allgemeineres Interview über seine Bücher zu führen, aber nun, gut Ding braucht Weile. Umso mehr freut es mich, dass es endlich geklappt hat und er nun Gast des dritten Teils zur Interviewreihen rund um Veränderungen und Co. ist:

Interview

(1) Liebe Kai, schön, dass es endlich klappt mit unserem Interview.
Deine Karriere hat mit Heftromanen gestartet, bekannt wurdest du mit historischer Phantastik. Inzwischen ist dein Name aber auch mit Jugendfantasy verknüpft, außerdem hast du Ausflüge u. a. zum Horror und zur Sword & Sorcery gewagt. Wie frei warst du früher in deiner Themen- und Genrewahl und wie steht es darum heute?

Abgesehen von den ersten Jahren, in denen meine Bücher einen historischen Hintergrund haben sollten [siehe Frage 2], war ich immer völlig frei in der Themenwahl. Manchmal so sehr, dass ich mich im Nachhinein frage, wie das eine oder andere Buch in einem großen Verlag erscheinen konnte. „Der Schattenesser“ von 1996 zum Beispiel ist ein ziemlich durchgeknallter Roman, in dem jemand Schatten ermordet und eine der Hauptfiguren zum Kannibalen wird. Das alles vermischt mit jüdischer Mythologie und russischen Märchenmotiven, angesiedelt in Prag während des Dreißigjährigen Krieges. Ich habe große Zweifel, ob heutzutage ein Verlag angesichts dieses Konzepts – und es gab ein ausführliches Exposé! – Hurra schreien würde. Aber mir hat man das durchgehen lassen. Das Gleiche gilt auch für Bücher, die kommerziell sehr viel erfolgreicher waren, etwa „Die Alchimistin“: Das war ein Buch bei Heyne, für einen substantiellen Vorschuss, und der Roman ist im Kern eine von Inzest bestimmte Familiensaga. Die damalige Programmleiterin war sehr clever, sie hat das kommerzielle Potential dahinter erkannt, an das ich persönlich keinen einzigen Gedanken verschwendet hatte. Es war einfach das, was ich machen wollte.

Ich könnte wahrscheinlich zig Titel aufzählen, und mit jedem war ein ziemliches Risiko verbunden, weil es oft weit weg von den aktuellen Trends war. Aber alle haben mich machen lassen, und manchmal hat sich das ausgezahlt, manchmal nicht. Mich macht das, gerade in der Rückschau, sehr glücklich, weil dadurch doch eine ziemliche Bandbreite und ein großes Themenspektrum entstanden sind. Kommerziell gesehen war sicher nicht jeder Roman eine gute Idee, weil ich mich fast nie um den Mainstream geschert habe, aber inhaltlich bin ich froh über jeden einzelnen.

(2) Deine bisherigen Romane wurden über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren veröffentlicht. In dieser Zeit hat sich der Buchmarkt gewandelt: Trends kamen und gingen, digitale Formate brachten auch für Autor:innen mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten, der Markt hat sich ausgefächert. Welche Veränderungen waren für dich am prägendsten bzw. besonders bemerkenswert?

Der erste Einschnitt war sicher um 2001 herum, als Phantastik aus Deutschland ziemlich unverhofft eine kommerzielle Größe auf dem Buchmarkt wurde. Mein erster phantastischer Roman, „Die Geisterseher“, ist 1995 erschienen, und damals war es den Verlagen wie gesagt wichtig, meine Bücher als historische Romane an ein Mainstreampublikum verkaufen zu können. Das war Fluch und Segen zugleich: Fluch, weil ich mich eben zwangsläufig über Jahre hinweg offiziell nicht aus der Historie herausbewegen konnte, obwohl die Bücher alle phantastische Elemente hatten; aber auch Segen, weil mir das zum einen Spaß machte und ich mir zum anderen meine eigene kleine Nische schaffen konnte. Viele andere historisch-phantastische Romane aus Deutschland gab es ja nicht, und auch international war das Feld sehr überschaubar. Das heißt, ich hatte schon eine kleine, aber eigene Ecke, als zu Beginn der 2000er der Fantasy-Boom losging. Das passierte ja zweigleisig, einmal aufgrund der Tolkien-Filme mit den Völker-Romanen in der High Fantasy, zum anderen aufgrund des Potter-Erfolgs im Jugendbuch. Ich hatte dann das Glück, zum richtigen Zeitpunkt die „Merle“- und „Wellenläufer“-Trilogien zu veröffentlichen, kurz bevor die Buchhandlungen voll waren mit phantastischer Jugendliteratur.

Der zweite Einschnitt war das Aufkommen der Streaming-Dienste und deren Marketingmacht. Interessant ist, wie sehr das von den Verlagen unterschätzt wurde. Als Netflix und Prime bei uns an den Start gingen, war vollkommen klar, dass das dem Buchmarkt massiv schaden würde, aber wenn man mit Verlagen darüber sprach, wurde oft nur mit den Schultern gezuckt. In der Buchbranche lässt man die Dinge traditionell gern auf sich zukommen und reagiert dann zwangsläufig zeitverzögert. Und jetzt, da alle Verlagsleute – wie wir AutorInnen – etwas verschämt zugeben müssen, dass sie ja auch ganz gern und häufig Serien gucken, hat sich eine gewisse Resignation eingestellt. Statt offensives Marketing zu betreiben, schrauben die meisten Verlage die Kosten zurück, sparen ein, wo sie nur können, und werden irgendwann merken, dass es die falsche Strategie war, kleinlaut die Decke über den Kopf zu ziehen. Es müsste massive Investitionen geben, um gegen die Vorteile des Streaming anzukämpfen, aber lieber streichen die Geschäftsführungen allen Abteilungen die Budgets.

Und da sind wir dann auch beim dritten Einschnitt, der gerade immer deutlicher wird: Viele Verlage reichen die Verantwortung für die Publicity ihrer Bücher mehr und mehr an die AutorInnen weiter. Natürlich, die Verlage haben in den letzten zwanzig Jahren sehr viel Geld ausgegeben, auch für uns, und viele Konzerne haben mit massiven Finanzlöchern zu kämpfen. Andererseits hilft es nicht, auf gute Inhalte zu setzen, wenn man dem potentiellen Publikum nicht verrät, dass es diese Inhalte überhaupt gibt.

Da wird in der Branchenpresse lautstark über die Einstellung einer angestaubten Büchersendung in einem dritten TV-Programm gewehklagt, die niemand mehr angeschaut hat und die ganz sicher auch keine Bücher verkauft hat, statt sich selbst an die Nase zu fassen und mal zu schauen, wie es denn mit dem eigenen, direkten Draht zu den BuchkäuferInnen aussieht. Gut gemeinte, vor allem aber preiswerte Kampagnen in den sozialen Medien können da kaum der Weg in die Zukunft sein. In den Marketing-Abteilungen und Redaktionen sitzen tolle Leute mit vielen Ideen, die aber aus Kostengründen nicht so dürfen, wie sie könnten. Und wenn Autoren wie Sebastian Fitzek sehr innovativ vormachen, wie es richtig geht, sagen viele, das ist toll, und machen trotzdem weiter wie bisher. Die gemeinsame Tour zum Beispiel, die Markus Heitz, Bernhard Hennen und ich auf die Beine gestellt haben, findet vollständig ohne Verlagsbeteiligung statt. Und alle sagen: „Super, dass die Autoren sich jetzt selbst kümmern.“ Klar, kostet ja auch nichts und bindet kein Personal.

(3) Man merkt, es ist dir wichtig, den Zeitgeist im Auge zu behalten. Das gilt auch für deine digitale Kommunikation mit Lesenden, bei der du ebenfalls einige Stationen mitbekommen hast: Du hast früher ein Journal und ein Forum geführt, bist heute sowohl über „klassische“ Social Media wie Instagram, aber auch z. B. über Lovelybooks aktiv. Zugleich bekommst du Mails und Briefe, außerdem vergeht kein Jahr ohne Lesereise. Wie betrachtest du diesen direkten Kontakt zu den Lesenden? Gibt es eine Kommunikationsform, die du dir „zurückwünschst“?

Das Forum auf meiner Website war irgendwann in den 2000ern so gut besucht, dass ich selbst nicht mehr jeden Eintrag lesen konnte. Ich musste jemanden bitten, das für mich zu machen. Zu der Zeit fand ich das anstrengend, im Nachhinein vermisse ich es. Das alles brach ziemlich abrupt ab, als es mit den sozialen Medien losging und Foren rapide an Bedeutung verloren. Das Gute an ihnen war, dass es eben meist nur um das jeweilige Thema ging, und die Leute noch disziplinierter diskutiert haben. Das mag ein etwas verklärter Blick sein, natürlich fand auch dort genug Blödsinn statt, aber im Großen und Ganzen kommt es mir trotzdem so vor, als wäre die Gesprächskultur in den Foren eine andere gewesen. Vielleicht fiel es auch nur leichter, sich herauszupicken, was einen wirklich interessiert hat.

Was ich heute mag, ist Instagram. Das wird auch nicht ewig anhalten, aber diese schnelle Kommunikation über weitgehend visuelle Inhalte gefällt mir im Moment ziemlich gut. Und mit einer Fragestunde in den Instagram-Stories erreiche ich mehr Leute als mit meinen gesamten Lesungen innerhalb eines Jahres.

Man muss auch ganz klar sagen, dass es niemals eine Hoch-Zeit der Leserbriefe gegeben hat. Vielleicht Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts, das kann ich nicht beurteilen, aber in den Neunzigern definitiv nicht mehr. Bei mir kamen damals vielleicht zwei, drei Briefe im Jahr an, ehe es schließlich mit dem Internet losging. Sogar heute bekomme ich mehr echte Leserbriefe als damals – vielleicht, weil viele auf die ganze Online-Kommunikation keine richtige Lust mehr haben und ein Brief wieder etwas Besonderes ist. Leider bin ich nicht besonders gut darin, Briefe zügig zu beantworten. Ich denke jedes Mal, da hat sich jemand große Mühe gegeben, also sollte ich das bei der Antwort auch tun. Was letztlich aber dazu führt, dass die Briefe auf Stapel wandern, die ich eigentlich dringend abarbeiten müsste. Ich versuche, das in Zukunft wieder besser zu machen.

(4) Du kommst selbst ein Stück weit aus dem Fandom. Beispielsweise hast du früher für Fanzines gezeichnet und deine Sammlung an Props / Filmrequisiten ist quasi der wahrgewordene Geek-Museumstraum. Würdest du sagen, dass dir deine Begeisterung für Phantastikthemen geholfen hat oder war sie auch zuweilen hinderlich?

Nicht nur „ein Stück weit“, sondern zu hundert Prozent. Ich habe als Fan durch und durch mit dem Schreiben begonnen und das hat nie nachgelassen. Das Klischee vom ewigen 12-jährigen lebe ich sieben Tage die Woche. Wenn ich mir nicht selbst Geschichten ausdenke, konsumiere ich die von anderen oder lese Unmengen von Texten über das Geschichtenerzählen – angefangen vom täglichen Surfen über Film- und Genre-Websites bis hin zu Sekundärliteratur und Biografien. Und, klar, diese Begeisterung ist nicht nur ein Bonus, sondern die Basis meiner Arbeit. Mich interessieren die phantastischen Genres in all ihren Ausprägungen, vom Buch über Hörspiel und Comic bis hin zum Film und der Malerei. Und all das fließt letztlich auf die eine oder andere Weise in meine eigenen Geschichten ein.

Ich bin der festen Überzeugung, dass man die Historie und die Traditionen eines Genres kennen muss, um überzeugend darin und damit arbeiten zu können. Und vor allem muss man vieles davon mögen, nicht nur einen ganz bestimmten Zweig. Rockmusiker sind zum Beispiel auffallend oft Klassik- oder Jazz-Fans, auch wenn sie so etwas nie selbst spielen würden. Trotzdem bereichert das Interesse ihre eigene Musik. Als Fantasy-Autor muss man nicht zwangsläufig Proust gelesen haben (ich hab´s jedenfalls nicht), aber es kann nicht schaden, einen soliden Überblick über die Bandbreite des eigenen Genres zu haben. Und die ist in der Phantastik mittlerweile gewaltig.

(5) 2001/2002 hast du die „Merle“-Trilogie veröffentlicht, bis heute gehören sie zu deinen erfolgreichsten Büchern. Erst 2020 ist mit „Serafin“ eine Fortsetzung erschienen. Warum die Rückkehr nach der langen Pause – Fanservice oder ein lang gehegter Wunsch? Oder fällt es dir generell schwer, mit Reihen abzuschließen? Schon der „Alchimistin“ hast du ja mehr als zehn Jahre später eine zweite Fortsetzung gegönnt.

Bei der „Alchimistin“ habe ich die Fortsetzungen nur für mich geschrieben. Der dritte Band, „Die Gebannte“, ist inhaltlich kein allzu kommerzielles Buch, aber eines, das ich unbedingt schreiben wollte. Es gab immer mal Leute, die nach einer Fortsetzung gefragt haben – interessanterweise heute sehr viel häufiger als damals –, aber das waren nicht genug, um von einem Erfolg des Buches auszugehen. „Die Gebannte“ ist auch bei ihrem ersten Erscheinen im Vergleich zu „Die Alchimistin“ nicht besonders gut gelaufen, trotzdem möchte ich irgendwann einen weiteren Band schreiben, einfach nur, weil ich so große Lust auf die Hauptfiguren und das Thema habe.

Bei „Serafin“ war es etwas anders. Seit dem Erscheinen des dritten „Merle“-Bandes im Jahr 2002 gab es kaum eine Lesung, bei der nicht irgendwer gefragt hat, warum die Geschichte so tragisch enden musste. Das ist bei mir die meistgestellte Frage, weit vor „Woher kommen Ihre Ideen?“, knapp gefolgt von „Warum so oft weibliche Hauptfiguren?“. Vor allem beim Signieren wurde ich oft auf Serafins Schicksal angesprochen. Wäre es aber nur um die Resonanz bei den LeserInnen gegangen, hätte ich in den vergangenen achtzehn Jahren jede Menge Gelegenheiten gehabt, eine Fortsetzung zu schreiben. Ich habe aber nie einen überzeugenden Ansatzpunkt gesehen: Wo und wie soll die Geschichte weitergehen – und vor allem: warum?

Vor ein paar Jahren gingen dann aber die Arbeiten an der Hörspiel-Adaption der „Merle“-Trilogie los, und dadurch musste ich mich zwangsläufig wieder genauer mit dem gesamten Text auseinandersetzen. Dabei bin ich auf zwei Punkte gestoßen: Zum einen auf die Tatsache, dass die Fortsetzung im dritten Band ganz klar angelegt ist, was ich mehr oder minder vergessen hatte. Zum anderen, dass ich der armen Junipa – Merles bester Freundin – in der Trilogie wirklich übel mitgespielt hatte und sie am Ende dafür nie so wirklich belohnt worden war. Dabei war Junipa eine meiner Lieblingsfiguren. Und ich dachte mir: Serafin ganz profan zum Leben zu erwecken, interessiert mich nicht, wohl aber das Schicksal von Junipa. Das hat den Ausschlag gegeben, mich nach all den Jahren an die Fortsetzung zu setzen. Ich habe mehr und mehr darüber nachdenken müssen und schließlich einen Weg gefunden, wie ich ihr nach all den Jahren gerecht werden konnte. Das Buch heißt „Serafin“ und ist Teil des „Merle“-Zyklus, aber die zentrale Figur ist eigentlich Junipa.

(6) Welchem deiner Bücher hättest du weshalb mehr Aufmerksamkeit gewünscht?

„Das zweite Gesicht“, weil es gut fünfzehn Jahre zu früh erschienen ist, lange vor dem heutigen Berlin-in-den-Zwanzigern-Boom. „Phantasmen“, weil die zentrale Idee dahinter vielleicht eine meiner originellsten ist. „Asche und Phönix“, weil es durch und durch ein Horrorroman ist, der (wenn auch aus nachvollziehbaren Gründen) als Liebesgeschichte vermarktet wurde. „Der Schattenesser“, weil es – bei allen Anfängerschwächen – eines der wahnwitzigsten Bücher ist, die ich geschrieben habe.

(7) Gab es auch ein Buch, bei dem dich der Erfolg überrascht hat? Welches und warum?

Mit dem Erfolg der „Merle“-Trilogie hat niemand gerechnet. Der Verlag hat sicher darauf gehofft, aber vorauszusehen war das nicht im Geringsten. Ähnlich war es schon bei „Die Alchimistin“, die nach soliden, aber nicht spektakulären Hardcover-Verkäufen plötzlich im Taschenbuch durch die Decke ging. Ich wusste das ehrlich gesagt gar nicht richtig zu würdigen, weil niemand großen Wirbel darum machte. Hin und wieder rief Heyne mich an und sagte mir, dass jetzt die soundsovielte Auflage der „Alchimistin“ gedruckt würde, und ich dachte immer nur: Das ist ja schön. Aber welche Bedeutung dieser Erfolg auf lange Sicht für mich haben würde, quasi als Basis meiner Laufbahn, das war mir währenddessen überhaupt nicht bewusst. Bei „Merle“ war ich nicht mehr ganz so naiv, aber trotzdem war es vergleichbar. Man wächst in so einen Überraschungserfolg ein wenig staunend hinein, freut sich, kann aber nicht das Gesamtbild überschauen. Dass wir nach zwanzig Jahren noch immer über „Merle“ reden würden, hatte ich damals ganz sicher nicht auf dem Schirm.

(8) Schauen wir zur Abwechslung mal in die Gegenwart: Die Coronakrise stellt Künstler:innen derzeit vor große Herausforderungen. Welche Auswirkungen spürst du auf deine Arbeit als hauptberuflicher Autor?

Die Branche fürchtet sich. Vertragsverhandlungen sind gerade für niemanden eine große Freude. Alle sagen einem ständig: „Wir wissen ja nicht, was nächstes Jahr ist.“ Vor allem in den ersten Wochen der Krise war das so. Man konnte fast den Eindruck haben, die Verlage hielten es für möglich, dass 2021 überhaupt keine Bücher mehr erscheinen. Das ist überspitzt formuliert, aber nicht sehr.

In meinem Alltag hingegen hat sich so gut wie nichts geändert. Ich habe früh angefangen, im Supermarkt eine Maske zu tragen, aber ansonsten sitze ich zuhause und arbeite genauso weiter wie zuvor.

(9)Zum Abschluss noch mal ein Blick in die Vergangenheit: Was würdest du deinem Debütautoren-Ich rückblickend für einen Tipp mit auf den Weg geben?

Es kommt bei der Arbeit an jedem Buch der Punkt, an dem man meint, den Überblick über das große Ganze zu verlieren. Nicht unbedingt in Sachen Plot, wenn man ihn vorher vernünftig durchgeplant hat, sondern eher, was den Ton und das „Gefühl“ für das Buch angeht. Das ist der Moment der Selbstzweifel und zugleich der Tag, an dem manche sich hinter einer angeblichen Schreibblockade einmauern. Es ist keine Schreibblockade. Es ist die Angst vor der eigenen Courage, vor dem Versagen, später in einer Karriere auch vor dem Gedanken „Ich konnte das mal, aber jetzt plötzlich nicht mehr.“ Und da muss man durch, indem man einfach weitermacht. Ganz egal, ob man glaubt, schlechte Seiten zu produzieren. Weiterschreiben! Korrigieren und verbessern geht später immer noch. Allerdings sind – in meiner Erfahrung – die Seiten aus diesen Phasen mit etwas Abstand betrachtet oft gar nicht mal so übel. Viele meiner besten Szenen habe ich in solchen Augenblicken geschrieben, in denen ich dachte: „Okay, das war´s. War schön, aber jetzt schaue ich mal lieber nach, wie lange ich von dem, was ich gespart habe, noch leben kann.“

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*Meine Schwester hatte einige seiner historischen Romane und ich bin mir streng genommen nicht mehr ganz sicher, ob ich davon schon vor der Fließenden Königin welche gelesen hatte oder ob die erst danach kamen …