Phantastische Perspektiven (1): Marie Meier

Phantastische Perspektiven (1): Marie Meier

20. September 2025 0 Von FragmentAnsichten

Nachdem in den letzten beiden Reihen der Fokus auf dem Werdegang von Autor*innen lag, die schon länger dabei sind, ist es mal an der Zeit für neue Perspektiven auf die Phantastik, die Kunst, das Leben mit beidem. 

Zum Start dieser neuen Reihe geht es zwar erneut ums Schreiben, aber aus Sicht einer Debütautorin.

Obwohl Marie Meier kein Neuling in der Szene ist. Kennengelernt habe ich sie 2023 über Bluesky und unser erster längerer Chat kam über einen Beitrag zu Creative Commons zustande – was schon mal eine gute Voraussetzung für weitere Gespräche war. Zwischenzeitlich hat sie u. a. in der Exodus und der »Psyche mit Zukunft«-Anthologie mehrere SF-Kurzgeschichten veröffentlicht und die eine oder andere Award-Nominierung mitgenommen. Heute nun erscheint mit der in die Stadt Arges entführenden Science Fantasy »Der letzte Schlüssel 1. Seelengrube« ihr erster Roman. Der ideale Zeitpunkt also für ein Gespräch über das Debüt und Vorangegangenes, über Selfpublishing und das Verlagswesen, Einflüsse und Empfehlungen:

(1) Liebe Marie. Heute (!) ist der offizielle Erscheinungstermin deines Debütromans »Seelengrube«. Wie fühlt es sich an?

[Marie] Ganz gut. Es fühlt sich eher »Puh!« als »WOW!« an, wenn du weißt, was ich meine. Ich glaube, gerade im Selfpublishing ist der Releasetag zwar ein schöner Tag, aber nicht der aufregendste von allen. Überwältigend war der Tag, an dem ich den ersten Probedruck in der Hand hielt und aus einem digitalen Ding ein tatsächliches Buch wurde. Heute bin ich einfach erleichtert, dass alle Schritte davor gut geklappt haben. 

(2) Nachvollziehbar. Mir erscheint Selfpublishing immer noch als Buch mit sieben Siegeln bei allem, was beachtet und in Angriff genommen muss. Warum hast du dich für diesen Schritt entschieden?

[Marie] Ich war bei »Seelengrube« am Anfang nicht sicher, wohin ich damit wollte. Ich wusste, dass eine Verlagssuche nicht einfach werden würde: »Seelengrube« ist Teil einer vierteiligen Reihe, was für ein Debüt eher ungünstig ist. Zudem ist Science Fantasy derzeit nicht im Trend und Heldinnen über Dreißig noch immer eher selten. Leute mochten das Projekt – 2023 war es auf der Shortlist des PAN-Stipendiums. Aber es war nichts, mit dem ich in der eher risikoscheuen Verlagswelt offene Türen einrennen würde.

Während ich meine Fühler in alle Richtungen ausstreckte, dachte ich viel an Selfpublishing. Aber es ging mir wie dir: Ich fand es mysteriös und komplex. Ausschlaggebend fürs Selfpublishing waren letztlich zwei Gespräche. Das erste fand in einem schmierigen Hotelzimmer in Dreieich statt. Johanna Lehmert, mit der ich damals an einem anderen Projekt arbeitete, machte mir klar, dass ich die wichtigste Fähigkeit für Selfpublishing eigentlich schon besitze: Ich bin gut darin, mir Dinge anzueignen. Sie bot an, künstlerisch an dem Buch mitzuarbeiten. Auf dem Rückweg von Dreieich fragte ich Carsten Moll, ob er mein Lektor sein will. Mit den beiden im Team fühlte ich mich sicher genug, um mich an das Abenteuer zu wagen.

(3) Und während der Arbeit daran hast du zwischenzeitlich noch zwei Verlagsprojekte an Land gezogen. Was kannst du über diese schon erzählen? 

[Marie] Ab Herbst erscheint beim Dark Empire Verlag eine Reihe von Gruselnovellen, die Cold Creeps. Im Winter kommt eine von mir, ein Kind der Liebe aus Jeff VanderMeers »Annihilation« und John Carpenters »The Thing«. Die Geschichte handelt von einer Familie, die Zeuge einer globalen Katastrophe wird. Im Frühjahr nächsten Jahres erscheint beim Isegrim Verlag mein Urban-Romantasy-Krimi. Die Protagonistin ist eine Hexe, die spektakulär daran scheitert, das Ordensregime zu stürzen und die magische Gesellschaft ein Stück besser zu machen. Ihre Kräfte werden gebannt, fortan lebt sie im Exil. Eine Mordreihe führt sie zurück in die amerikanische Magiemetropole, in der ihr Aufstand gescheitert ist. Zusammen mit ihrer Partnerin, einer bissigen Vampirjägerin, ermittelt sie in den Morden und macht alle ein bisschen wütend.

(4) Man kann nicht sagen, du wärst auf ein Subgenre festgelegt, wa. Kannst du schon sagen, wo du für dich bisher (weitere) Vor- und Nachteile siehst im Selfpublishing vs. Verlag?

[Marie] Die Vorteile habe ich schon anklingen lassen – Selfpublishing ist eine tolle Möglichkeit, dem Buchmarkt ein paar neue Geschmacksrichtungen hinzuzufügen. Zudem kann man sich gestalterisch austoben. Viele Selfpublishende nutzen das auch – ich sehe immer öfter Bücher, die nicht nur durch ihre Textqualität, sondern auch durch bildhübsche Illustrationen überzeugen. Nachteilig am Selfpublishing ist natürlich, dass man einiges investieren muss – Zeit und Geld vor allen Dingen, manchmal Nerven. Und trotz allem bleiben viele Bücher unsichtbar. Es gibt bislang keine richtig guten Strukturen, um Büchern aus dem Selfpublishing die Sichtbarkeit zu geben, die sie verdienen. Zudem hat Selfpublishing mancherorts noch immer keinen guten Ruf. Auf gewisse Literaturstipendien kann man sich nicht bewerben, wenn man ›nur‹ ein Buch im Selfpublishing veröffentlicht hat. Das ist ermüdend. Bücher sind nicht qualitativ hochwertiger, weil ein Verlagslabel drauf ist (und andersrum).

(5) Einer der Hauptgründe für mich, auf Verlage zu setzen, lag für mich vor allem am Anfang darin, hier ein Team zu haben, das aus Eigeninteresse mit mir zusammenarbeitet. Also (mind.) eine verlegende Person, die bei meinem Material denkt, das findet sie gut genug, um zu investieren.

Aber auch wenn jetzt erst dein Debütroman erscheint, bist du ja kein Neuling, der quasi erst mal eine Bestätigung von außen bräuchte. Du warst nicht nur (mehrfach!) fürs PAN-Stipendium nominiert, sondern hast auch schon mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht. Eine davon, »Seelenruh« aus der »Psyche mit Zukunft«-Anthologie von ohneohren, war sogar für den Kurd Laßwitz Preis nominiert.

Wo stehen für dich Kurzgeschichten? Eigene Kunstform? Übungsplatz? Beides?

[Marie] Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Bestätigung brauchte. Ohne die Nominierungen für das PAN-Stipendium und die positiven Rückmeldungen auf meine Kurzgeschichten hätte ich mich vermutlich nie getraut, zu sagen: »YOLO, ich investiere jetzt in eine vierbändige Reihe.« (Oder auch »YOLO, ich investiere jetzt in mich«, denn wie die meisten Schreibenden bin ich immer irgendwann an dem Punkt, an dem ich meine Texte scheußlich finde.)

Kurzgeschichten zu schreiben war für mich ganz am Anfang ein Testballon, um zu gucken, ob mein Schreiben überhaupt etwas taugt. Ob die Leute sich für meine Themen interessieren, meinen Stil. Aber vor »Seelenruh«, das dann für den KLP nominiert wurde, hatte ich noch nie eine Kurzgeschichte geschrieben – und es war so schwer! Man muss ganz präzise erzählen, jedes Wort muss stimmen. Im Roman kannst du schlechtes Pacing mit liebenswerten Figuren retten, aber in einer Kurzgeschichte ist alles so verdichtet, dass es den Vibe tötet, wenn du schwafelst. Also ja: definitiv eine eigene Kunstform. Zugleich aber auch Übungsplatz. Ich fand es immer schwer, kurz zu erzählen. Die finale Fassung von »Seelengrube« ist 30.000 Wörter kürzer als die allererste. Die erste ist entstanden, bevor ich mich mit Kurzgeschichten beschäftigt habe. Kurzgeschichten haben mir beigebracht, wie ich Wörter wegschäle, damit die Geschichte hervortreten kann. 

(6) Wo kommt Marie als Autorin und Phantastin eigentlich her, wo liegen deine Origins? Gehörst du zu den Leuten, die ihre Jugend am Pen&Paper-Tisch verbracht haben? Hast du mit 11 »Twilight« gesuchtet? Mit 12 Legolas-Fanfiction veröffentlicht [sorry, ich gehe einfach gerade die Gen-Y-Klischees durch]? Was hat dich zum Schreiben gebracht und was zur Phantastik?

[Marie] Ich glaube, dass Marie die Phantastin besonders davon geprägt wurde, dass sie erst spät die Liebe zum Lesen entdeckt hat. Als Kind wurden mir keine Geschichten vorgelesen, stattdessen dachte sich mein Vater gern selbst welche aus. Und als Teenager habe ich quasi die abgetragenen Bücher meiner älteren Geschwister gelesen – Marion Zimmer Bradley, Tad Williams, David Eddings und Diana Gabaldon. Und etwas Kai Meyer und Cornelia Funke. »Twilight« hab ich auch gelesen, aber das kam mir damals sehr zahm und unaufgeregt gegen den  Geschmack meiner Geschwister vor. Später hab ich viel Terry Pratchett gelesen, Ursula K. Le Guin, Joe Abercrombie, Haruki Murakami und Neil Gaiman.

Prägend war auf jeden Fall meine sehr lange und sehr intensive Manga-und-Anime-Phase. Ich gehöre zur Generation »Sailor Moon«. Meine Liebe zur Science-Fiction kam damals durch Mangas/Animes wie »Neon Genesis Evangelion« und »Ghost in the Shell« sowie Videospiele wie die Final Fantasy-Reihe. Meine Liebe zu Genrehybriden kommt sicher auch daher, weil in der japanischen Phantastik der Übergang von Science-Fiction zu Fantasy und Horror oft fließend ist. Ich habe damals auch viele Comics gelesen und selbst Comics gezeichnet. Zum Schreiben kam ich durchs Zeichnen – irgendwann entdeckte ich, dass ich viel mehr Geschichten zu Papier bringen kann, wenn ich sie einfach aufschreibe. Ich habe nie etwas anderes als Phantastik geschrieben. 

Mit dreizehn habe ich mit Pen & Paper und Chat-/Mail-Rollenspiel angefangen, jedoch weniger »Dungeons & Dragons« als Erzählrollenspiele wie »Vampire die Maskerade« und »Scion«. Von deiner Klischee-Liste fehlt mir also eigentlich nur Fanfiction – damit konnte ich tatsächlich nichts anfangen. 

(7) Damit sind wir ja schon bei der Frage nach deiner Inspiration. Ich weiß, die Frage ist oft ein Klischee, aber meines Erachtens zu Unrecht. Ich finde es spannend zu erfahren, was Kunstschaffende beeinflusst. Neben der japanischen Phantastik, wo liegen deine Inspirationen, für „Seelengrube“, aber auch allgemein? In welchen Werken, welchen Kunstformen, welchen Alltags- oder Lebenserfahrungen?

»Seelengrube« ist stark von seiner Entstehungszeit geprägt. 2022 habe ich noch in Estland gelebt. Es war Herbst, der ist im Nordbaltikum verregnet und schlammig, fast ohne Sonne. Die weltpolitische Situation und die Nähe zu Russland, das gerade die Ukraine angegriffen hatte, macht das Jahr in meinem Kopf zu einem der finstersten überhaupt. Vor dem Hintergrund wollte ich etwas Hoffnungsvolles und Trotziges schreiben, das anderen ein wenig Mut und Wärme gibt, ohne richtig eskapistisch zu sein. Eine Ermächtigungsfantasie von jemandem, der quasi psychisch im estnischen Herbst sitzt und sich zum Frühling vorarbeitet.

Wenn ich so zurückblicke, merke ich, dass 2022 auch eins der Jahre war, in denen ich am meisten Science-Fiction und Science Fantasy gelesen habe. Ich habe »Murderbot« entdeckt und viel Philip K. Dick gelesen. Die Serie »Andor« war für mich eine Offenbarung, ebenso wie »Arcane«. »Arcane« und N. K. Jemisins »Die große Stille« haben auch nachhaltig das Worldbuilding beeinflusst.

Ansonsten sind meine Liebe zu Streetart, Glasmalerei und Tanz in »Seelengrube« eingeflossen. Streetart ist gesellschaftskritisch, urban und am ehesten ›Kunst für alle‹, weil sie außerhalb von Galerien existiert. In der Unterstadt der Metropole Arges ist sie die wichtigste Kunstform und hat zum Teil sogar religiöse Anklänge. Meine Liebe zu Glasmalerei hat die Ästhetik der kosmischen Magieform beeinflusst. Die Art, wie Magie gewirkt wird, mit Handgesten und Haltungen, ist vom klassischen indischen Tanz inspiriert. Der wiederum wird oft mit Religion in Zusammenhang gebracht – die ältesten religiösen Rituale des Hinduismus wurden (laut Veden) getanzt. Und der Gott Shiva hat mit seinem Tanz die Welt zerstört und wiedererschaffen. Das ist der Vibe, den ich einfangen wollte. Die magischen Handgesten im »Seelengrube«-Kosmos wurden von den Avataren, den Göttern von Arges, ersonnen, um ihre Macht zu kanalisieren. Wenn sie tanzen, zerstören sie feindliche Armeen. 

(8) Die Avatare sind auch Motiv einer der eindrucksvollen Illustrationen von Johanna Lehmert. Eine Illustration der Stadt Arges stammt zudem von Lunariztic. Du hast ja schon erwähnt, dass einer der Vorteile des Selfpublishings auch in der Freiheit liegt, hier selbst gestalten zu können. Kunst (~Malerei) und Literatur, gehört das für dich zusammen? Werden deine kommenden Veröffentlichungen ebenfalls illustriert sein?

[Marie] Ich denke, dass sich Literatur und Malerei fabelhaft ergänzen können. Für mich sind Bilder kein Muss – ich habe zeitweilig nur E-Books gelesen. Die sind meist sehr reduziert, was visuelle Elemente anbelangt. Wenn ich Romane mit etlichen Illustrationen lese, möchte ich trotzdem das Gefühl haben, dass der Text die Hauptrolle spielt und die Bilder ihn ergänzen. (Wenn beides gleichwertig ist, finde ich das auch schön − das geht dann aber für mich schon in Richtung Graphic Novel.)

Die Folgebände von »Seelengrube« werden natürlich weitere Illustrationen von Johanna Lehmert enthalten. Bei den Verlagsveröffentlichungen darf ich noch gar nicht so viel sagen – es wird aber auf jeden Fall auch etwas fürs Auge geben. 

(9) Neben dem Schreiben hast du dich Anfang des Jahres mit dem Lektorat Meier & Moll (gemeinsam mit Carsten Moll) selbstständig gemacht, zuvor warst du akademisch im Bereich Game Studies tätig. Bedingen diese Bereiche dein Schreiben?

[Marie] Ich dachte ziemlich lang, dass meine Forschung in den Game Studies kaum Einfluss auf mein Schreiben nehmen würde. Dann haben mich Testlesende darauf hingewiesen, dass mein Roman wie ein Videospiel funktioniert – es gibt unterschiedliche Level (in der »Seelengrube«-Stadt im wahrsten Sinne) und man muss gewisse Bedingungen erfüllen, um neue Bereiche freizuschalten. Sogar Endgegner gibt es irgendwie, die man bezwingen muss, bevor es weitergeht. Und da wusste ich: Ich kann den Spielen nicht entkommen. 

Ich habe zwar meine Doktorarbeit über Videospiele geschrieben, aber vor allen Dingen über Erzählstrukturen. Ursprünglich war ich Literatur- und Filmtheoretikerin. Ich glaube, man merkt meinen Büchern an, wie sehr ich Strukturen liebe – nicht nur die großen, sondern auch wiederkehrende Elemente, Motive und Metaphern, die ich bewusst einflechte. Und meine Liebe zu filmischer Ästhetik schlägt sich in der Art nieder, wie ich beschreibe und Actionszenen plane. Vor meinem inneren Auge muss eine Szene eine Bildharmonie haben und eine einprägsame Farbgebung – wie ein Wes-Anderson-Film (zum Beispiel »Grand Budapest Hotel«).

All das hat dann natürlich auch Einfluss auf meine Arbeit als Lektorin. In meinen Lektoratsweiterbildungen und in den Gesprächen mit Kolleg*innen lerne ich laufend Dinge über das Schreiben und den Literaturbetrieb – Trends im Schreiben, Tabus, stilistische Kniffe. Und am Ende des Tages fühlt es sich dann an, als würden sich alle Dinge, die ich in meinem Leben gemacht habe und gerade mache, ziemlich gut ergänzen.

(10) Zum Abschluss: Welche 3 Bücher empfiehlst du den Lesenden dieses Interviews?

[Marie] Die schwierigste Frage zuletzt. »Zerrissene Erde« von N. K. Jemisin, »Verlorene Zeiten« (This Is How You Lose the Time War) von Amal El-Mohtar und Max Gladstone sowie »Systemausfall« von Martha Wells.

Hab Dank! 

Mehr über Marie findet ihr auf ihrer Website oder ihren Social-Media-Profilen, wo sie als CoffeeAndKismet unterwegs ist.

Marie Meier mit Reh
Marie Meier (links) + Reh