Die Leserin, die ich gerne wäre …
… und die Leserin, die ich bin
Was verraten die ungelesenen Bücher in meinem Regal über mich? Ein Beitrag zum Welttag des Buches.
Vor einiger Zeit habe ich in einem Artikel die Weisheit gefunden, ungelesene Bücher im Regal seien ein Hinweis darauf, was für eine Art Leser man gerne wäre.* Ein Prinzip, das sich ebenso auf viele andere Lebens- oder Konsumbereiche anwenden lässt: Ich besitze Kleidungsstücke, die in meinem Alltag selten Platz finden, aber ich mag den Gedanken an ihre Möglichkeiten, also bleiben sie. Ich besitze CDs, die ich behaupte, zu mögen, obwohl ich nur drei Lieder von ihnen kenne. Und in meiner Merkliste warten Dutzende Filme darauf, dass ich sie endlich anschaue – während ich in der Praxis meistens zum Rewatch greife.
Vielleicht gibt es dort draußen Menschen, bei denen Geschmack, Außendarstellung und Selbstbild Hand in Hand gehen. Ich gehöre nicht oder zumindest nur bedingt dazu. Vorteil dessen: Ich kann über diese Diskrepanzen nachdenken. Und nachdem ich 2021 einen Blick darauf geworfen hatte, wie ich mich für ein Buch entscheide, schaue ich heute, wofür ich mich gerne entscheiden würde. Oder eben, was für Lese-Jemande ich gerne wäre.
Ich wäre gerne …
1) Jemand, der mehr liest
Im Vergleich zu anderen Bibliophilen ist mein SuB (=Stapel ungelesener Bücher) noch recht moderat. In den letzten Jahren habe ich kaum neue Titel gekauft, da ich durchaus den Anspruch habe, (fast) alles aus meinen Regalen zu lesen, die aber aus allen Nähten platzen. Also habe ich mir vorgenommen, erst mal den vorhandenen SuB abzubauen. Neue Titel dürfen theoretisch nur einziehen, wenn ich alte abgebe. Praktisch bestätitgen Ausnahmen die Regel: Wenn mich auf einer Con oder Lesung ein Titel spontan anlacht, findet sich schon noch ein Eckchen. Außer der Reihe laufen außerdem Sachbücher, Geschenke, Rezensionsexemplare und Bücher aus dem öffentlichen Bücherschrank oder der Bibliothek. Und natürlich gibt’s auch zu Romanen mehrere Merklisten. Mit anderen Worten: Zumindest der imaginäre SuB ist doch umfangreich und ich werde die meisten Romane, die mich interessieren, nie lesen können – dafür ist die Lebensspanne zu kurz, die Aufmerksamkeitskonkurrenz zu groß und ich lese zu wenig bzw. zu langsam.**
2) Jemand, der verschiedene Genres liest
Ein Nebeneffekt dessen, dass ich so viel über Phantastik schreibe, ist dass ich auch viel davon lesen muss, um halbwegs zu wissen, worüber ich rede. Dadurch bleiben andere Genres leider auf der Strecke, obwohl ich ungern zu einseitig lese. Also warten in meinem Regal viele Nicht-Phantastik-Romane frohen Mutes auf den Moment, wenn ich mal wieder einen Ausgleich zur Phantastik brauche. (Inzwischen könnte ich wohl allein ein halbes Jahr nur damit verbringen, meine Anthony-McCarten-Romane nachzuholen.)
3) Jemand, der mehr Kurzgeschichten liest
Ich besitze recht viele Anthologien, habe jedoch die wenigsten komplett gelesen. Ich mag Kurzgeschichten an für sich, weil sie sich gut für zwischendurch eignen und weil sie das Potenzial haben, pointiert Gedanken in wenig Text zu transportieren. In der Praxis treffen in vielen Sammlungen aber nur eine Handvoll Beiträge meinen Geschmack; gerade in der Fantasy und Science Fiction scheinen mir Leute oft zu viel Handlung in zu wenige Seiten quetschen zu wollen. Daher hat sich bei mir eine gewisse Kurzgeschichten-Müdigkeit eingestellt mit dem Ergebnis, dass ich solche nur noch zweckgebunden lese oder wenn die reine Seitenanzahl mich vermuten lässt, dass die Sache mit der Kurzgeschichte hier wirklich ernst genommen wurde (wie in „Mein kleiner Horrortrip“). Trotzdem würde ich eigentlich gerne häufiger welche lesen, denn trotz aller Kritik treffe ich gerade hier auch immer wieder unverhofft Perlen, besonders auch aus unbekannteren oder internationalen Federn.
4) Jemand, der gerne E-Books liest
E-Books sind eine tolle Lösung für das Regalplatz-Problem. Und während des Pendelns mit Zug und Straßenbahn hatte ich mich mal kurzzeitig mit ihnen angefreundet – im stehenden Zustand war es einfach leichter, sich mit Reader als mit aufgeschlagenem Buch gegen die Haltestangen zu quetschen. Daheim bevorzuge ich aber nach wie vor die gedruckten Varianten und im Zug habe ich mich inzwischen eher Richtung Hörbuch oder knickfreundlicher Kurzromane orientiert. E-Books lese ich daher nur noch in Ausnahmefällen, z. B. bei Rezensionsexemplaren, bei hierzulande kaum erhältlichen bzw. vergriffen Titeln oder bei wissenschaftlichen Werken, deren Druckvarianten oft sehr viel teurer sind. Trotzdem beinhaltet meine virtuelle Bibliothek zwei Dutzend Titel, die auf ihren Straßenbahn-Moment warten. Die meisten davon sind angelesen.
5) Jemand, der Reihen zu Ende liest
Inzwischen bevorzuge ich klar Einzel- gegenüber Reihenbänden. Es gibt einfach zu viele Bücher und zu viele Schriftsteller*innen, als dass ich mich gerne über mehrere Bücher mit derselben Welt oder Schreibe aufhalten würde. Trotzdem kommt es natürlich immer mal vor, dass ich Mehrbänder anfange, und in etwa 30 % der Fälle kaufe ich dann auch Fortsetzungsbände.*** Allerdings bin ich selten so neugierig, dass ich sofort zur Fortsetzung greifen würde (falls sie überhaupt schon erhältlich ist). Also wird erst mal ein anderer Titel gelesen und danach ist die Lust auf die Fortsetzung des Vorgängers oft doch schon wieder verflogen. Und so warten hier z. B. die Otherland– oder Maximum Ride-Fortsetzungen noch darauf, dass ich mal wieder in die entsprechenden Welten zurückkehren will. (Manchmal kickt bei Reihen aber auch mein Sammeltrieb. Ich erwarte z. B. nicht, jemals alle Drachenlanze-Bände zu lesen. Aber nun, da ich bereits an die sechzig Bücher davon habe, kann ich auch nicht widerstehen, wenn ich auf einer Con auf einen der noch fehlenden Bände treffe. Andere sammeln Funkos …)
6) Jemand, der viele Genreklassiker liest
Es ist mir wichtig, einen Überblick zu haben, welche Trends, Stile und Inhalte die Phantastik in den verschiedenen Jahrzehnten durchlaufen hat, wenigstens in den deutschsprachigen und angloamerikanischen Szenen. Darüber kann ich mich sekundärliterarisch informieren, aber es ist doch noch mal was anderes, selbst in die Texte zu schauen. Daher besitze ich z. B. eine ganze Kiste an Terra Fantasy-Büchern und die schwarzen Goldmann-/Heyne-Bände werden auch nicht weniger. Trotzdem lese ich hiervon selten mehr als ein bis zwei Titel im Jahr, und außerhalb der Rereads mit Peter sind das dann eher „Sidequests“ für nebenher. Wenn im öffentlichen Bücherschrank mal wieder ein Judith-Merril-Buch auftaucht, nehme ich es trotzdem optimistisch mit. Klar lese ich das irgendwann …
7) Jemand, der Obskures und Weiterführendes entdeckt
Ich habe kein Lieblingssubgenre, mag aber Titel, die die Phantastik weiterdenken und aus einer Metaebene betrachten. Sicher gibt es ein paar Subgenres, die hierfür besonders prädestiniert sind, z. B. aus dem Großbereich der Weird Fiction. Trotzdem ist es eher eine Frage des jeweiligen Titels oder der Autorenperson, nicht des Subgenres. Die Bücher, die ich mir spontan kaufe, sind oft welche, von denen ich mir erhoffe, dass sie diesen Blick über den Tellerrand wagen. Das sind dann aber auch Bücher, die ich nicht nebenher, sondern bewusst lesen will und für die ich entsprechend schon mal mehrere Wochen brauche. Mit dem Ergebnis, dass ich nicht so viele von ihnen lese, wie ich gerne würde. Aber keine Sorge, Scarlet Thomas und Steph Swainston, wir werden noch unsere Dates haben!
Und wie schaut es bei euch aus? Bilden die Bücher in eurem Regal ab, was für eine Art Leser*in ihr seid? Oder ist das teils mehr Wunschtraum als Realität?
*Der Ursprungsbeitrag, der mich zu diesem Blogpost inspiritert hat, könnte Julia Pühringers Essay „Ein Liebesbrief an ungelesene Bücher“ aus 2022 im STANDARD gewesen sein, zeitlich würde das passen. Allerdings habe ich ihn deutlich länger und melancholischer in Erinnerung, daher bin ich mir nicht ganz sicher. Vermutlich wurde das Thema in den letzten Jahren häufiger angegangen.
**An dem Punkt sollte ich noch erwähnen, dass ich es eigentlich schätze, langsam zu lesen. Früher habe ich viel mehr und schneller gelesen, dafür blieb jedoch weniger hängen. Heute ~genieße ich mehr. Um dennoch einen Überblick über Aktuelles zu haben, habe ich mir zuletzt aber angewöhnt, Bücher querzulesen. Was wiederum unbefriedigend ist.
***Ich bin inzwischen sehr tolerant damit geworden, Reihen bewusst nur anzulesen. Die Lücken kann ja meine eigene Fantasie stopfen 🙃
Ich hab fast gar keine ungelesenen Bücher zu Hause. Ein paar mehr, seit ich regelmäßig an offenen Bücherschränken vorbeigehe. Aber das Ziel ist auch immer, die bald zu lesen und zu entscheiden, ob sie bleiben dürfen (nur wenn ich weiß, dass ich dieses Buch noch mehrfach lesen werde), oder ob sie zurück in den Bücherschrank gehen. Ich sortiere auch regelmäßig aus, was den Erwartungen nicht mehr entspricht. Das geht dann auch in den Bücherschrank. Mag teilweise auch am Platz liegen. Ich hab halt nicht viel.
Du liest auch vieles als E-Book, wenn ich deinen Blog richtig interpretiere, oder?
Ja, denke so etwa 50/50. Entweder aus der Onleihe, oder gemeinfreie Klassiker-Ausgaben. Da kann man sich dann auch mal etwas angucken, das man höchstwahrscheinlich nicht gekauft hätte (den Tieck damals zB). Aber auch da hab ich jetzt keine hundert Bücher, die ich noch nicht gelesen habe rumfliegen. Vll wenn man die ganzen Merkzettel hinzuzählt, die ich für Bibliothek und Onleihe gesetzt habe :D.