Klassiker-Reread: Drachenlanze (6/7)
Halbfinale beim Drachenlanze-Reread! Heute geht es weiter mit dem Gespräch zu „Die Legenden der Drachenlanze“, wieder mit Peter Schmitt und Christina F. Srebalus.
Vorab eine Liste der bereits erschienenen Beiträge:
- Die Geburt von Dragonlance
- Mormonisches in Krynn
- Kanonenfutter mit Identitätskrise: Die Drakonier
- Gespräch zu „Die Legenden der Drachenlanze“, Teil 1
- Gespräch zu „Die Legenden der Drachenlanze“, Teil 2
Das Finale steigt dann am Donnerstag wieder auf Skalpell & Katzenklaue. Jetzt geht es aber erst mal um …
(3) Die Figur Raistlin und Figurenkonstellationen
[Alessandra] Wenn wir gerade beim Thema Raistlin sind – mich würde mal interessieren, was macht für euch heute den Reiz dieser Figur aus? Ich glaube, wir sind uns einig, dass er irgendwas hat, dass wir ihn weiterhin mögen, obwohl er immer wieder alle um ihn herum verletzt und im Großen und Ganzen sehr narzisstisch agiert. Peter hatte eben schon erwähnt, dass er eine Art Identifikationsfigur für Nerds darstelle; ähnlich wird das sogar im ersten Buch mal von Justarius ausgedrückt: „Wir wurden alle in unserem Leben einmal ausgelacht. Wir sind alle auf Geschwister eifersüchtig gewesen. Wir haben Schmerzen gespürt und gelitten, so wie er. Und wir haben uns alle nach der Macht gesehnt, um unsere Feinde zu zerschmettern! Wir bemitleiden ihn. Wir hassen ihn. Wir fürchten ihn – alles, weil ein wenig von ihm in jedem von uns steckt, obgleich wir uns das selbst nur in tiefer Nacht eingestehen.“ Das empfand ich als recht interessanten Absatz, aber für mich trifft es das noch nicht so recht. In einigen Punkten kann ich mich sicher mit Raistlin identifizieren und ich halte ihm zugute, dass er offenbar als einziger die Ungerechtigkeiten der Welt benennen kann (siehe Gossenzwerge usw.). Aber irgendwie fehlt mir das Quäntchen, das mir begründet, warum ich trotz allem so mit ihm „gelitten“ habe. Ist es einfach diese Art „Loki-Charme“, dass wir ein Herz mit ambivalenten Anti-Helden haben?
[Peter] Ich konnte mich als Teen schon ziemlich gut mit ihm identifizieren. Auch mit den nicht so sympathischen Seiten seines Wesens. Seiner Arroganz, seiner Selbstverliebtheit, seiner Machtgier. Ich fand das alles gut nachvollziehbar. Und das Justarius-Zitat drückt es vielleicht etwas pompös und melodramatisch aus, trifft es im Grunde aber ziemlich gut. (Von der Eifersucht auf Geschwister abgesehen, die hatte ich nie.) Im Rückblick ist das natürlich ein bisschen unheimlich. 😉
Einen „Loki-Charme“ habe ich hingegen nie bei ihm verspürt. Denn nachdem ich erst mal angefangen hatte, ihn „von außen“ zu betrachten, fand ich ihn eigentlich nicht mehr besonders anziehend. Immer noch interessant, aber nicht länger „cool“. Einzig seine Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt, die – wenn einmal geweckt – so viel leidenschaftlicher zu sein scheint als bei all den offiziell „Guten“, spricht mich auch heute noch an.
[Christina] Über das Zitat bin ich auch gestolpert und vermute, dass das schon die auf dem Silbertablett präsentierte Möglichkeit zur Identifikation sein sollte. Aber noch viel auffälliger fand ich ‚das Rätsel‘ Raistlin. Er ist meiner Meinung und Analyse nach eine großartig geschriebene Trickster-Figur (daher passt der Loki-Vergleich gut). Man muss die ganze Zeit mitraten, ob er gerade ein Spiel spielt oder es ernst meint oder es doch noch bedauern könnte, und das wird nicht nur durch Fremdcharakterisierung, sondern auch durch das immer wieder auftauchende Erwähnen seiner Trickzauberei ins Gedächtnis gerufen. Das soll die Frage aufwerfen: Ist all sein Verhalten vielleicht nur ein Trick?
Jedes Mal wenn thematisiert wird, dass er nur noch böse sei und nicht mehr zu Gefühlen wie Liebe fähig, ist das durchgehend aus der Sicht anderer geschrieben, wie Tolpan oder Caramon. Da seine eigenen Point of Views aber immer noch Platz für Zweifel lassen, kann auch die Leserschaft bis zum Ende mitzweifeln, ob er wirklich nur noch verkommen ist. Daher ist er für mich mittlerweile weniger aus Identifikationsgründen, sondern aus literaturwissenschaftlicher Sicht spannend geworden – und führt vor Augen, wie sehr ich als Leserin möchte, dass er im Grunde „gut“ (oder zumindest nicht ganz herzlos) ist. Das schafft die Art, wie er geschrieben ist, immer noch.
[Alessandra] Guter Punkt mit dem „Rätsel“. Daran habe ich bisher auf Storytelling-Ebene nicht gedacht, aber ich glaube, das macht wirklich viel aus. Hätte Raistlin sich am Ende als das „Monster“ entpuppt, hätte es gleichwohl meine ganze Einstellung zur Reihe erheblich geändert. Ich habe generell den Eindruck, dass er der springende Punkt ist, weshalb Drachenlanze heute überhaupt noch ein Thema ist. Er bleibt im Gedächtnis, ähnlich wie ein Drizzt oder Elric, was ich hingegen von Tanis z. B. nicht behaupten kann. Vielleicht liegt’s auch am weißen Haar 🙂 Vielleicht konnten auch deshalb die späteren Reihen nicht mehr an den Erfolg der ersten beiden anknüpfen. Es gab da einige ähnlich ambivalente Figuren, z. B. Mina, die Heldin der „Die Jünger der Drachenlanze“-Reihe. Oder Caramons Sohn Palin, der sich von seinem Onkel zeitweise sehr fasziniert zeigt. Aber niemand konnte Raistlin wirklich beerben.
[Peter] Dass er die mit Abstand interessanteste Figur der Drachenlanze-Saga ist (zumindest der ursprünglichen, denn mehr kenne ich ja nicht), keine Frage. Und dass dafür auf jeden Fall (auch) sein ambivalenter Charakter verantwortlich ist, ebenfalls. Der Vergleich mit Tanis ist da finde ich sehr treffend. Denn der war zwar als „zerrissener Charakter“ konzipiert, wirkt auf mich heute aber bloß noch langweilig. Keines seiner vermeintlichen emotionalen Problemchen berührt mich. Seine Meditationen über „Heldentum“ und „den Lauf der Welt“ wirken auf mich banal und nichtssagend.
Was bei Raistlin noch dazu kommt, ist natürlich die Beziehung zu Caramon. Eigentlich kann man die beiden ja gar nicht wirklich getrennt betrachten. Und so ein Brüderpaar war in der Fantasyliteratur der Zeit glaub ich noch ziemlich ungewöhnlich.
[Christina] Langweilig fand ich übrigens seine Auslassungen über „Gut und Böse“ nicht, auch wenn diese Ideen natürlich nicht neu sind, aber irgendwie fand ich sie immer noch aktuell oder auf einen Kern verdichtet, der vielleicht (leider) nie alt wird: Macht und das Streben nach Macht/Wissen/Können sind nicht per se schlecht oder böse, sondern das was man damit anfängt oder eben nicht anfängt, und natürlich der Weg dahin sind ebenfalls zu betrachten. Raistlin hält halt der damaligen Gut-Böse-Trennung den Alles-ist-etwas-grauer-als-ihr-gern-hättet-Spiegel vor. Das war damals noch nicht so verbreitet wie heute, und er hat sicherlich dazu beigetragen, dass sich das etabliert hat.
Bei der Beziehung zu Caramon und allgemein den Beziehungen in den Büchern muss ich Peter zustimmen. Einzelne Figuren sind mir auch weniger in Erinnerung, aber die Beziehungskonstellationen um z. B. die enge Freundschaft zwischen Tanis und Flint (found family) oder die komplizierte und gleichzeitig zusammenschweißende Liebe des Geschwisterpaares Raistlin-Caramon, die liebevollen Neckereien zwischen Tolpan und Flint, das von Ehrgeiz getriebene Schüler-Lehrer-Verhältnis von Raistlin und Dalamar – das sind für mich Dinge, die hängengeblieben sind, auch wenn ich nur wenige Szenen mit den Figuren zitieren könnte.
[Alessandra] Oh, langweilig fand ich diese Gut/Böse-Ausführungen auch nicht. Und ich glaube, sie gewinnen wieder an Relevanz. Gerade in Diskussionen zu Utopien könnte man manchmal die Frage danach stellen, wie „gut“ Gemeinschaften denn sein können und wo wir Ambivalenzen, Grauzonen usw. akzeptieren müssen, wenn niemand ausgeschlossen werden soll.
Stimme euch auch zu, was den Reiz der Figurenkonstellationen angeht. Würde hier unbedingt auch noch Sturm erwähnen; zu dem hatte ich anfangs keinen Bezug, weil ich ja erst später die „Chroniken“ gelesen habe. Ich fand es aber schön, wie in den „Legenden“ immer wieder Bezug auf ihn genommen wurde. Es stört mich in Büchern oder Serien (looking at you @MCU), wenn verstorbene Figuren mit der Zeit manchmal vergessen werden … Und Caramon und Raistlin haben schon deshalb einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil ich für Geschwister-Arcs etwas übrig habe, vor allem, wenn sie nicht allzu platt dem Gut/Böse-Dualismus anheimfallen, der gerade für Zwillinge leider oft reserviert ist.
Aber an manchen Stellen war ich dann auch wieder enttäuscht und dachte mir „da wäre noch mehr gegangen“. Z. B. hat Caramon doch reichlich wenig auf Kitiaras Tod reagiert, die immerhin seine Halbschwester war. Sicher, er hatte da gerade anderes zu tun, war die Welt am Retten und sowas. Aber eine Geste oder ein kurzer Dialog mit ihr, bevor sie sterben musste, hätten schon was ausgemacht. Außerdem stand ich kurz davor. Raistlin-Dalamar-Fanfiction zu schreiben 😀 Hätte gern mehr Interaktion zwischen den beiden gehabt.
[Peter] Ja, dass Caramon so überhaupt nicht auf Kits Tod reagiert, ist schon etwas … hmmm … seltsam. Ich kann mich aber auch nicht erinnern, wie die Beziehung der beiden in den „Chronicles“ beschrieben wurde. Standen sie sich wirklich nahe?
Und selbst was Caramon und Raistlin angeht, hatte ich den Eindruck, dass die Bücher das Potential nicht wirklich ausschöpfen. Zu Anfang stellt ausgerechnet Tas/Tolpan eine ziemlich vernichtende Analyse von Caramons Persönlichkeit und seiner Beziehung zu seinem Bruder an: “Loving Caramon, always putting Raistlin first! Well – maybe you did and maybe you didn’t. I’m starting to think that you always put Caramon first! And maybe, Raistlin knew, deep inside, … You only did it because it made you feel good! Raistlin didn’t need you – you needed him! You lived his life because you’re too scared to live a life of your own!“
Aber leider hatte ich nicht das Gefühl, dass die Bücher sich im weiteren Verlauf wirklich mit der ganzen Komplexität und Verworrenheit dieser Beziehung auseinandersetzen. Caramon muss sich am Ende zwar in gewisser Weise von Raistlin emanzipieren und „sein eigenes Leben“ führen, aber das bedeutet vor allem, dass er sich nicht länger irgendwelche Illusionen über seinen Bruder macht (ohne deshalb aufzuhören, ihn zu lieben). Aber mit seinem eigenen Beitrag zu dieser ganzen verworrenen Situation muss er sich eigentlich nie wirklich (selbst)kritisch auseinandersetzen.
[Christina] Ja, manchmal wären etwas mehr (Selbst-)Reflexion oder tieferes Eintauchen in Szenen und Emotionen an einigen Stellen schön gewesen; da gab es verpasste Chancen im Text. Dennoch fand ich, dass es komplexe Figurenentwicklung gab.
[Alessandra] Ich stimme euch in beidem zu – an einigen Stellen wäre mehr gegangen, aber gerade Caramon hat schon eine spannende (und nachvollziehbare!) Entwicklung gehabt. Kurz noch wegen Kitiara: An einer Stelle erwähnt Tanis meine ich, dass sie früher zu fünft (oder sechst?) als Söldner umhergezogen sind (Tanis, die Zwillinge, Kit und Flint oder Sturm). Und ich habe mir Kitiara immer als Caramons Mentorin in Sachen Schwertkampf vorgestellt. Insofern standen sie sich vor dem Krieg der Lanze (=vor der Romanhandlung) schon recht nahe, denke ich.
Weiter geht’s in zwei Tagen 🙂