Kanonenfutter mit Identitätskrise: Die Drakonier

Kanonenfutter mit Identitätskrise: Die Drakonier

22. Februar 2023 4 Von FragmentAnsichten

Klassiker-Reread 2023: „Drachenlanze“ (3/7)

(Das ist der dritte Beitrag im Rahmen der 2023er-Ausgabe von „Klassiker wiederentdecken“ mit Peter Schmitt und Christina F. Srebalus, dieses Mal zur Drachenlanze-Saga. Der erste Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Saga erschien auf Skalpell & Katzenklaue, der zweite zu den mormonischen Hintergründen der beiden Hauptautor/innen ebenfalls. Weiter geht es dann hier in zwei Tagen mit einem Gespräch zu „Die Legenden der Drachenlanze“.)

Völkern feste Gesinnungen einzuschreiben, hat in der High Fantasy im Allgemeinen und in Drachenlanze im Besonderen eine große Tradition. Trotzdem war die Saga in dieser Hinsicht nicht völlig unkritisch mit sich selbst – zum Beweis folgt hier ein Blick auf das Volk der Drakonier und die Bände „Drachennest“ und „Die Grube der Feuerdrachen“ von Margaret Weis und Don Perrin. Vorsicht, der Text enthält erhebliche Spoiler zu den beiden Büchern!

 „Orcs are people too?“

Zu dieser als Frage formulierten Erkenntnis kam im September 2020 Rafaeal Motamayor in einem Beitrag für Slashfilm, nachdem die „Rings of Power“-Serie von den Orks offenbar ein differenzierteres Bild gemalt hatte, als man es bis dato von den Tolkien-Bösewichten gewohnt war. Plötzlich waren sie kein (reines) Kanonenfutter mehr, sondern ein Volk mit Zielen, Identität, Emotionen gar. Motamayor betrachtete dies als konsequente Entwicklung, die sich vor allem aus Tabletop-Diskussionen speise, welche forderten, moralische Ausrichtungen nicht mehr an die Volkszugehörigkeit zu binden. Ein Konzept, mit dessen Änderung sich vor allem Dungeons and Dragons schwer tue.

Geregelte Verhältnisse

Betrachten wir nun Krynn, die Welt von Drachenlanze – immerhin ein D&D-Setting –, kann man sich leicht vorstellen, dass Motamayor mit letzterer Einschätzung nicht falsch liegt. „Gut“ und „Böse“ stellen in der Logik von Krynn weniger moralische Zuschreibungen dar, sondern vielmehr einen Teil der Identität nicht nur von Einzelpersonen und Gottheiten, sondern sogar ganzer Völker: Da ist der gute Gott Paladin auf der einen Seite, seine Gegenspielerin Takhisis auf der anderen. Die Waagschale hält der neutrale Gilean. Und während Gilean die Menschen schuf, die sich zum Guten ebenso wie zum Bösen hingezogen fühlen können, kreierte Takhisis die bösen (und nicht mit besonderer Intelligenz gesegneten) Oger, Paladin hingegen die Elfen. Ein Elf, der so garstige Dinge tut, wie seine Nase in Bücher schwarzer Magie zu stecken, gilt daher z. B. als unnatürlich und wird als Dunkelelf verstoßen (ob es auf der anderen Seite auch Lichtoger gibt, ist meines Wissens nicht bekannt).

Daneben gibt es zwar noch einige andere Völker mit etwas weniger klarer Einordnung, aber im Großen und Ganzen sind die Überraschungen auf Krynn zumindest aus Buchsicht überschaubar. Begegnet dir ein Elf, wird er vielleicht die Nase rümpfen, aber dich nicht gleich umbringen. Begegnet dir ein Oger, renn lieber um dein Leben.

„Die Chroniken der Drachenlanze“, die erste Trilogie aus dem gigantischen, mehr als 190 Romane umfassenden Drachenlanze-Buchuniversum, folgt diesem Schema noch weitgehend unkritisch.[1] Die Bösen sind fast alle machtgierige Unsympathen, die sich im Grunde ein eigenes Volk züchten müssen, um überhaupt an ausreichend Gefolgschaft zu kommen (dazu später mehr). Und natürlich dienen sie der Dunklen Majestät Takhisis, die böse ist, weil sie eben böse ist, und die ihre Horden brandschatzend über die Welt herfallen lässt, die sie selbst mit geschaffen hat. Ihr stellen sich die mutigen Abenteurer rund um den „Halbelf“ Tanis entgegen, die (fast) ausnahmslos von tadelloser Ehre sind und an der Seite von Paladin die Welt retten. Yay.

Paradoxe Verhältnisse

So weit, so klassisch. Wie seltsam diese strenge Einteilung heute anmutet, darauf gehen wir in unserem Gespräch zu „Die Legenden der Drachenlanze“ weiter ein, dem will ich hier nicht vorneweg greifen. Aber sagen wir es so: Ob die Diskussionen nun aus dem Tabletop oder aus einem generell gestiegenen Bewusstsein gegenüber problematischen Volkszuschreibungen weit über die Fantasy hinaus resultieren, sie haben auf jeden Fall längst ihre Spuren hinterlassen. In der Fantasy ist das Grau der Standard geworden. Das Böse ist nicht mehr böse um des Bösen willen, es braucht heute einen Grund. Und ein Ork oder Dunkelelf zu sein, reicht da nicht mehr aus.

Mit ein wenig Interpretationsspielraum dürften solche überholten Elemente mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass Wizards of the Coast zunächst davon absah, die Drachenlanze-Reihe nach 2010 fortzuführen. Abgesehen von ein paar Sonderausgaben war damit Douglas Niles‘ „The Fate of Thorbadin“ (2010) der letztveröffentlichte Band der Reihe, ehe 2022 mit „Dragons of Deceit“ doch noch eine neue Trilogie gestartet ist, dann wieder aus der Feder von Margaret Weis und Tracy Hickman. Weis‘ in der komplizierten Hauptchronologie finale drei Bände – bekannt als „The Dark Disciple“/„Die Jünger der Drachenlanze“ – wurden 2008 mit „Amber and Blood“/„Die Sucherin“ beendet und hatten das klar geregelte Pantheon noch ständig als Thema.

Schaut man etwas genauer hin, muss man der Reihe aber zugutehalten, ihren vorgegebenen Strukturen schon lange nicht mehr unreflektiert gefolgt zu sein. Bereits in „Die Legenden der Drachenlanze“ – der zweiten Trilogie, die direkt an die Ereignisse aus den „Chroniken“ anknüpft – finden sich immer wieder Diskussionen zum Wesen des Bösen und zur Scheinheiligkeit des Guten. Auch hierzu will ich jetzt nicht in die Details gehen, da wir darüber im Gespräch ausgiebig diskutieren. Vor allem durch die Figur des Magiers Raistlin, der schon in den „Chroniken“ eine Ausnahmeerscheinung darstellte, werden die Lesenden, aber auch die Figuren, immer wieder gezwungen, die scheinbar einfache Einteilung zu hinterfragen.

Nach den „Legenden“ spielt Raistlin nur noch eine nebensächliche Rolle, doch die Hinterfragung des Gut/Böse-Konzepts ist fortan in die Reihe eingeschrieben, obwohl die Dichotomie paradoxerweise durch die Anmaßungen der Dunklen Göttin Takhisis immer wieder auf die Spitze getrieben wird.

Exkurs: Chronologische Verhältnisse

Zur weiteren Einordnung ein kurzer Blick auf die kriegerische Chronologie der Welt Krynn: In den „Chroniken“ findet sich wie gesagt eine Truppe Helden, die Takhisis‘ Aufstieg zur Macht zurückhalten kann (= War of the Lance). Die Ruhe ist aber nicht von langer Dauer, da die Welt bald durch den Größenwahn des Magiers Raistlin und dessen nicht minder machtgierige Halbschwester Kitiara erschüttert wird (= Blue Lady’s War in den „Legenden“). Dank Zeitreise bekommen die normalen Bürger Krynns davon aber gar nicht so viel mit, nur die Stadt Palanthas braucht hinterher umfangreiche Sanierungsmaßnahmen. [Werbejingle: Mehr hinzu im Gespräch, das ab Freitag veröffentlicht wird!]

Dieses Mal währt die Ruhe gerade lange genug, um eine neue Generation an Helden heranwachsen zu lassen, darunter die ganzen Kiddies der Classic-Helden. Dann bekommt Takhisis schon wieder Lust, die Welt zu erobern, was ihr zur Abwechslung sogar gelingt. Blöd nur, dass ausgerechnet jetzt Göttervater Chaos sich anschickt, die Welt platt zu machen und daher alle Kräfte geeint werden müssen, um Krynn überhaupt zu retten (= Chaos War). Die Götter ziehen sich zurück, das Fünfte Zeitalter beginnt, aber es stellt sich raus: die Völker von Krynn haben auch ohne Gottheiten kein Problem damit, einander zu dezimieren. Daraufhin folgt der War of Souls, dessen Ende die Rückkehr der Götter markiert, wobei das Pantheon jedoch einige Veränderungen durchläuft: Takhisis lässt bei einem erneuten Eroberungsversuch ihr Leben und Paladin wird sterblich, um die Neutralität nicht zu gefährden. Prompt schicken sich aber in der „Dark Disciple“-Trilogie die übrigen Götter an, das Machtvakuum auszufüllen.[2]

Viel los also auf Krynn, und es muss schon ganz schön stressig sein, nie zu wissen, ob morgen noch die Welt steht oder grad irgendein Gott vorbeikommt, um sie dem Erdboden gleich zu machen. Na ja, wir schlafen meist auch noch gut. Jedenfalls, wenngleich das alles eine etwas anstrengende Abfolge ist, die meist darauf hinausläuft, dass eine Variante von DAS BÖSETM die Welt übernehmen möchte, nutzten viele der wechselnden Tie-in-Autor*innen doch immer wieder die Umstände, um bei aller scheinbaren Klarheit doch auch die Relativität des Bösen, des Guten und auch des Neutralen herauszustellen.

Relativierende Verhältnisse

Es gibt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Werken, die man sich näher anschauen könnte. Auf der Meta-Ebene fand ich beispielsweise die „Dark Disciple“-Trilogie immer sehr interessant, die spürbar versucht hat, Drachenlanze an einen neuen Zeitgeist anzupassen, indem sie deutliche Dark-Fantasy– und sogar Romance-Vibes eingebracht hat. (Lesetechnisch konnte mich die Trilogie nicht packen, aber Margaret Weis hat’s geschafft, aus dem zuvor ziemlich modrigen Totengott Chemosh einen sexy Vampirlord zu machen, das muss man erst mal schaffen.)

Hier soll es nun aber um ein anderes Werk gehen. Neben der Hauptreihe wurden immer wieder „kleine“ Romane aus dem Shared Universe von Drachenlanze veröffentlicht, die z. B. Nebenfiguren oder -schauplätze näher beleuchten. In seiner Rezension zum DSA-Roman „Im Farindelwald“ schrieb Sören Heim kürzlich, dass solche Nebenromane das Potenzial hätten, das alltägliche Leben (nicht nur) in Fantasywelten darzustellen, ohne große Weltenrettung und Heldenreisen. Drachenlanze bietet viele solcher Bände, die in der Qualität sehr unterschiedlich und nicht immer kanonisch sind, auf jeden Fall aber dabei geholfen haben, die Welt auch außerhalb von Untergangs- und Umwälzungsszenarien greifbarer zu machen.

Man kann sich darüber streiten, ob „The Doom Brigade“ (1996) in diese Sparte fällt, da die hier geschilderten Ereignisse für den Fortlauf des Chaos War nicht unerheblich sind. In der deutschsprachigen Reihenfolge erschien das Buch sogar als „Die Erben der Drachenlanze 3: Drachennest“ und „Die Erben der Drachenlanze 4: Die Grube der Feuerdrachen“,[3] d. h. als Teil der offiziellen Chronologie, obwohl die geschilderten Ereignisse parallel zu den „Erben 1 +2“ spielen. Diese Adelung dürfte vornehmlich dem geschuldet sein, dass „The Doom Brigade“ von Margaret Weis verfasst wurde, zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Don Perrin, der u. a. auch an dem Raistlin-Origin-Roman „Der Zorn des Drachen“ und der Space-Fantasy-Trilogie „Mag Force“ mitwirkte. „The Doom Brigade“ fällt dennoch klar aus der Hauptreihe heraus, denn es wird trotz Quest keine weltumspannende Handlung erzählt, stattdessen hat der Band sogar sanfte Sword-&-Sorcery-Anklänge. Zudem folgt die Handlung nicht den Haupthelden des Chaos War, sondern führt neue, vom Rest der Reihe abgekapselte Protagonisten ein. Und die sind Angehörige des garstigsten Volks, das Krynn bis dahin zu bieten hat: Sie sind Drakonier.

Drakonische Verhältnisse

Außerhalb von D&D-Settings und eigentlich selbst außerhalb von Drachenlanze spielen Drakonier in den Weiten der Fantasy und Science Fiction kaum eine Rolle. Offenbar tauchen entsprechend benannte außerirdische Völker in „Doctor Who“ und „Buck Rogers in the 25th century“ auf, wobei die „Buck Rogers“-Exemplare herzlich wenig mit den Krynn-Bewohnern zu tun haben, während die aus „Doctor Who“ ein paar vermutlich eher zufällige Parallelen als intelligente Villains aufweisen.[4] Innerhalb der Fantasy sind mir Drakonier lediglich in der „Age of Wonders“-Reihe begegnet, deren Welt Athla ohnehin einige Ähnlichkeiten zu Krynn und anderen D&D-Welten aufweist. Noch bis Teil 2,5 („Shadow Magic“) wurden auch hier die Völker nach Gesinnungen eingeteilt, doch obwohl optisch und in der Lore wiederum Ähnlichkeiten zu den Krynnern bestehen, gelten die von den anderen Völkern gemiedenen Drakonier auf Athla als „neutral“.

Screenshot aus dem Spiel "Age of Wonders 3" mit Beschreibungstext der Drakonier. Erzählt, dass Drakonier von Drachen erschaffen wurden, damit die ihnen die Menschen vom Leib halten.
Beschreibung der Drakonier in „Age of Wonders 3“

Von den Krynner Exemplaren kann man das wahrlich nicht behaupten. Zu Anfang dieses Beitrags habe ich erwähnt, dass Takhsis‘ Leute ein Volk kreieren mussten, um genug Fußsoldaten für ihren Sturm auf Krynn zu haben. Eben dieses Volk sind die Drakonier. Einer von Takhisis‘ Klerikern, ein Kerl namens Wyrllish, manipulierte gemeinsam mit dem schwarzen Magier Dracart und dem roten Drachen Harkiel die Eier der „guten“ Drachen (ach ja, auch die Drachen sind streng unterteilt), sodass anstatt putziger kleiner Drachenbabys unputzige Monstrositäten aka Drakonier den Schalen entschlüpften. Kein Wunder, dass diese magischen Ausgeburten in den „Chroniken“ durch die Bank als übles, sadistisches und austauschbares Kanonenfutter eingeführt werden, dessen Funktion im Großen und Ganzen daraus besteht, von der Heldentruppe niedergemacht zu werden. Sie erwecken keinerlei Sympathien, diese Drakonier, und daher ist es natürlich völlig in Ordnung, wenn sie scharenweise von den Guten dezimiert werden.

Näher betrachtet werden die Drakonier bereits in „The Manuscript of Dunstan VanEyre“, einer Drachenlanze-Kurzgeschichte von Kevin Swan und William Wells, erschienen 1987 in „Leaves from the Inn of the Last Home“.[5] Zwei Bibliothekare führen hier ein Gespräch mit einem namenlosen inhaftierten Drakonier, um mehr über das neu aufgetauchte Volk herauszufinden. Dieses wird gewohnt abstoßend präsentiert: Zwar ist der Inhaftierte intelligenter und gebildeter als seine Besucher dachten, jedoch auch arrogant und selbstherrlich. Er ist überzeugt, die Drakonier seien auserwählt, eine neue Ordnung in die Welt zu bringen, in der sie über Menschen, Zwerge, Gnome und Minotauren herrschen, während andere Völker (Elfen, Kender) ganz getilgt werden müssten. Dabei sind aber auch die Drakonier selbst in eine Hierarchie unterteilt, die den Bibliothekaren zufolge daraus resultiert, dass Takhisis eine Weile herumexperimentiert hat, bis sie die beste Variante gefunden hat. An der Spitze stehen die magisch begabten Aurak, gefolgt von den Sivak, welche fliegen und die Gestalten ihrer Opfer annehmen können. Daneben gibt es die (teils ebenfalls magiekundigen?) Bozak und schließlich die Kapak und die Baaz, von denen der Inhaftierte wenig hält. Gemeinsam ist den meisten Drakoniern, dass sie dazu neigen, selbst im Tod noch ihre Feinde zu ärgern, indem ihre Leichen etwa explodieren oder zu Stein erstarren.[6]

Interessanterweise beschreibt der Inhaftierte sein Volk als geschlechtslos  („there is no male, there is no female […] we simply are“, S.81) und positiv gesprochen als kosmopolitisch („we are of the world. The world is our home.“, S. 81) Außerdem klärt er seine Besucher über die Nahrungsgewohnheiten auf (Menschen schmecken besser als Elfen), er scheint an eine Art Wiedergeburt zu glauben und das Konzept der Freundschaft nicht recht zu verstehen („I think this is just another example of the weakness of [humans]“, S. 84). Zudem sind Drakonier strenge Sozialdarwinisten mit Rassenlehre („in the end, it simply purifies the race“, S. 85). Eine gewisse Zuneigung scheint der namenlose Inhaftierte höchstens gegenüber den Drachen zu empfinden.

Wie gesagt, sie sind kein Volk zum Liebhaben, die Krynner Drakonier.

Ein Mensch im Drakonier-Kostüm mit braungoldenen Flügeln, Drachenmaske, silbernen Hörnern und goldenen Arm- und Beinschienen. Im Hintergrund viele Zuschauer.
Schauen auch mal auf Conventions vorbei: „Draconian“ von Perry G unter CC BY NC-ND 2.0 via Flickr

„The Doom Brigade“

Ist es möglich, solche Wesen – die nicht mal auf den attraktiv-morbiden Charme von Dunkelelfen oder Vampiren zurückgreifen können – dennoch zu Helden umzudeuten? Offensichtlich, denn, so viel sei vorweggenommen, es gelingt Weis und Perrin in „Drachennest“ und „Die Grube der Feuerdrachen“ (der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden den engl. Titel „The Doom Brigade“). Allerdings nehmen sie sich dafür Freiheiten heraus bzw. widersprechen dem Dunstan-Manuskript in einigen nicht unerheblichen Punkten.

Erst einmal jedoch ein Blick auf die Handlung:

„The Doom Brigade“ spielt kurz vor bzw. während des Finale des Chaos War. Takhisis‘ Heerscharen jagen über Krynn.

Alle Heerscharen? Nicht ganz. Nach Takhisis‘ verheerender Niederlage am Tempel von Neraka während des Kriegs der Lanze zogen sich viele ihrer Anhänger zurück. Unter ihnen auch die Ersten Pioniere, ein Regiment Drakonier unter Herrschaft des Bozaks Kang. Ihres Daseinszwecks beraubt, haben sich die etwa zweihundert Drakonier schließlich in der Nähe von Thorbadin niedergelassen und ein Dorf gegründet. In direkter Nachbarschaft befindet sich ein Dorf der Neidar (=Hügelzwerge), mit denen sie in freundschaftlicher Rivalität leben: Die Drakonier rauben den Neidar den Schnaps, im Gegenzug rauben die Neidar den Drakoniern ihre Schafe. Und dann wird wieder zurückgeraubt. So geht es alle paar Wochen, mit dem stillen Übereinkommen, dass es bei den Überfällen keine Toten zu beklagen gibt.[7] Abgesehen davon führen die Drakonier in ihrem Dorf ein ereignisloses Leben als Schäfer und Gärtner, und es könnte alles sehr schön sein, litten die Männer nicht unter einer kollektiven Identitätskrise: Denn wie gibt man dem eigenen Leben einen Sinn, wenn man weiß, dass nichts überdauern kann?

An dieser Stelle können wir schon mal einen Punkt festhalten, an dem „The Doom Brigade“ essentiell mit Dunstans Manuskript bricht: Die Drakonier betrachten sich nicht als geschlechtslos, sondern als männlich. Für sie ist es Allgemeinwissen, dass Lord Ariakus (= ein Villain aus dem Krieg der Lanze) befahl, die weiblichen Drakoniereier nicht ausbrüten zu lassen, um die Anzahl an Drakoniern unter Kontrolle zu halten. Warum der Gesprächspartner von Dunstan das nicht wusste oder nicht preisgeben wollte? Wer weiß, vielleicht hat sich das Wissen erst später verbreitet.

Auf jeden Fall ist Kangs Leuten bewusst: Sie sind die erste und zugleich die letzte Generation an Drakoniern. Das Wiedergeburt-Konzept von Dunstans Gesprächspartner ist ihnen offensichtlich nicht bekannt oder sie glauben nicht daran. Da sie darüber hinaus nicht in der Lage sind, Neues zu erschaffen (z. B. gescheit Getreide anzubauen), ist es kein Wunder, dass sie in eine Sinnkrise geraten. Im Wesentlichen warten die Drakonier in dem kleinen Dorf nur darauf, zu sterben und vorher möglichst viel Zwergenschnaps zu trinken, was vor allem dem sehr nachdenklich geratenen Kang zu schaffen macht.

Rettung naht scheinbar in Gestalt der Schwarzen (Menschen-)Ritterin Huzzad. Die Schwarzen Ritter sind der neue Trumpf von Takhisis: Diszipliniert und ehrenhaft, haben sie nichts gemein mit den Rüpeln, die bisher für die Dunkle Majestät gearbeitet haben. Stattdessen ähneln sie vielmehr ihren Vorbildern, den Rittern von Solamnia. Bloß dienen sie halt nicht Paladin, sondern Takhisis, aus Gründen. (Und sind damit ein weiterer Baustein für die vor allem von Margaret Weis vorangetriebene Relativierung des „Bösen“.) Die Schwarzen Ritter also sind auf dem Vormarsch und nehmen munter eine Stadt nach der anderen ein. Freudig wollen sich die Drakonier unter Kang dieser hehren Sache anschließen, wobei Kang bald Freundschaft mit Huzzad schließt, die angetan ist von dem melancholischen Kommandanten, der so gar nicht in das arrogante Klischee seines Volks passt. Bloß sind dann halt doch nicht alle in den Reihen von Takhisis so aufgeschlossen und ehrenhaft wie Huzzad: Die meisten Menschen rümpfen nur die Nase über das „unnatürliche“ Volk, und die an ihrer Seite kämpfenden Drachen sind erst recht angewidert von der mutierten Brut ihrer Cousins und Cousinen. Im Großen und Ganzen wäre es den meisten lieber, Kangs Regiment wäre wie der Großteil der Drakonier in der Schlacht von Neraka gefallen. Da er aber nun mal noch lebt und vor Ort ist, wird er mit seinen Leuten zum Latrinendienst eingeteilt. Obwohl Kang ein riesiger Takhisis-Fanboy ist, ist das dann doch zu viel des Bösen. Er schnappt sich seine Jungs und zurück geht’s ins Drakonierdorf – wo gerade die Bürgerwehr aus dem Zwergendorf dabei ist, alles abzufackeln. An diesem Punkt ist es temporär vorbei mit der „keine Toten auf beiden Seiten“-Regel und die Drakonier verwandeln sich in die Wüteriche, als die wir sie aus den vorherigen Büchern gewohnt waren. Kang hält seine Leute aber davon ab, es allzu bunt zu treiben und die restlichen Neidar anzugreifen.

Die Drakonier retten, was von ihrem Dorf zu retten ist, aber viel ist es nicht. Enttäuscht von ihren Kameraden in Takhisis‘ Heer und ihrer einzigen Heimat beraubt, verfällt das Regiment erneut in Trübseligkeit.

Zu ihrem Glück gibt’s jedoch auch unter den Neidar ein paar … ambivalente Genossen. Der Zwerg Selquist ist ein übler Bursche, denn seine Mutter ist eine Romantikerin und sein Vater war ein Dunkelzwerg, wie könnte da was Gutes bei rumkommen? Selquist ist sogar so übel, dass er Kangs heiliges Takhisis-Medaillon stehlen kann, ohne Verbrennungen dritten Grades zu erleiden. Gemeinsam mit drei Kumpels stiehlt er auch sonst alles, was nicht bei Drei aufm Baum ist, und bricht sogar in die streng bewachte unterirdische Stadt Thorbadin ein. Dabei erbeutet er ein Buch mit Karte, das zu zweierlei Schätzen führt: Erstens zu … Schätzen halt, Zwerge stehen ja auf Gold und Co. Zweitens aber auch zu den unausgebrüteten Eiern weiblicher Drakonier. In den Wirrungen der wieder aufgenommenen Überfälle gelangt Kang an die Karte, was Selquist vor ein Problem stellt: Ohne Schatzkarte schließlich kein Schatz. Er begibt sich daher schnurstracks in die Höhle der Löwen aka Drakonier und klärt Kang auf. Gewissermaßen wortwörtlich, denn es braucht einen Moment, bis Kang checkt, was die tiefere Bedeutung von „in Thorbadin gibt’s weibliche Drakoniereier“ ist. Sobald es Klick gemacht hat, ist der Enthusiasmus aber groß. Prompt machen sich aus den beiden Dörfern zwei Gruppen auf nach Thorbadin: Die einen lockt das Gold, die anderen wollen ihre zukünftigen Gemahlinnen ausbrüten.

Seltsam sind die anderen

„The Doom Brigade“ ist kein Meilenstein der Fantasy. Und doch ist es mir neben den „Legenden“ und vereinzelten Kurzgeschichten am stärksten in Erinnerung geblieben. Zum einen liegt das sicher an der humorvoll-lockeren Erzählweise, die über einige nicht so spannende Lager-Abhandlungen hinwegtröstet, in denen Perrins militärischer Hintergrund zum Tragen kommt. Zum anderen ist das Buch aber auch vergleichsweise tiefsinnig. Dass die Frage nach dem Sinn des Lebens letztlich beantwortet wird mit „Man muss eine Familie gründen!“, ist Drachenlanze-typisch konservativ. Dennoch lässt einen das Hadern von Kang mit sich und dem Schicksal seiner „found family“, seinem Drakonier-Regiment, nicht kalt. Hierbei wird ein weiterer Bruch mit dem Dunstan-Bild der Drakonier deutlich: Die sind nämlich sehr wohl der Freundschaft fähig, vor allem die Bromance zwischen Kang und seinem Stellvertreter Slith gibt den Drakoniern Sympathiepunkte. Und auch sonst stehen die Drakonier einander nahe, von den starken Hierarchiegefällen merkt man wenig (allerdings finden sich keine Aurak im Dorf). An einer Stelle zu Anfang des Buchs hält Kang bereits fest: „Das Böse richtet sich gegen sich selbst […]. Aber für die Ersten Pioniere gilt das nicht.“ (S. 19) Zur Gemeinschaft gehören auch mehrere seit einem Unfall physisch behinderte Drakonier.

Die Drakonier aus Dunstans Manuskript sind eine Ansammlung von Narzissten mit Größenwahn. In „The Doom Brigade“ werden sie hingegen als eigenes Volk mit eigenen Werten, Zielen und Ritualen etabliert. Wenn sie blindlings über die Zwerge herfallen oder sich über das Leid eines Mishakal-Priesters lustig machen, wirken sie nicht nett. Als sich am Ende die Zwerge sorgen, von der kommenden Generation Drakonier aus ihrem Tal vertrieben zu werden, gibt Kang zu: „Ich könnte nicht garantieren, dass es nicht kommt, wie du gesagt hast. Ich kenne mein Volk. Wir sind von Natur aus rücksichtslos und aggressiv. Wir würden uns ausbreiten wollen und ihr wärt uns im Weg.“ (S. 188/189)

Sie bleiben also welche von den Bösen, sind auf diese Einordnung sogar stolz, aber das nimmt ihnen nicht ihre „menschlichen“, zuweilen gar gütigen Züge. Wie alle Gemeinschaften definieren sie sich über ein Wir und ein Ihr, aber sie werden nicht davon getrieben, dieses Ihr auszumerzen und sehen sich nicht als grundsätzlich dem Anderen überlegen.

Darüber hinaus sorgt vor allem Kang, ganz und gar geborener Anführer, für einen militärischen Ehrenkodex, der etwa vorsieht, dass keine zwergischen Zivilisten angegriffen werden dürfen. Gleichwohl sind alle Drakonier und insbesondere Kang noch immer treu der Dunklen Königin ergeben. Und fragte man sich bisher, warum zur Hölle irgendjemand einer Göttin dienen sollte, die selbst ihre Handlanger nur wie Schmutz behandelt, wird auch dieses Bild hier relativiert. Sie reagiert freundlich auf Kangs Gebete, gewährt ihm magische Fähigkeiten und erklärt ihm letztlich auch, wie die weiblichen Eier, die Jahrzehnte im Zauberschlaf lagen, reaktiviert werden können. (Wofür gleichwohl eine Gegenleistung fällig wird.)

So nett das alles ist, sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass sich Drachenlanze dennoch im negativen Sinne treu bleibt, was sich neben immer wieder auftauchenden Anflügen u. a. von Lookismus und Ableismus vor allem in der Figur des unfassbar nervtötenden Selquist zeigt. All dessen (vornehmlich zweifelhafte) Charakterzüge werden von seinem ersten Auftritt an völlig unkritisch damit begründet, dass sein Vater eben ein Daergar, ein Dunkelzwerg, war: „Daergars sind ausgezeichnete Diebe und im ganzen Zwergenreich als die gerissensten und unehrlichsten aller Zwerge bekannt, Eigenschaften, die Selquist geerbt hatte.“ (S. 40) Das macht vieles von dem, was der Band sonst leistet, wieder kaputt. Ohnehin versucht das Buch nicht, die grundsätzlichen Einteilungen zu eliminieren, es fügt ihnen lediglich Facetten hinzu.

Es ist also nicht alles perfekt, bei Weitem nicht. Dennoch bleibt am Ende die Erkenntnis: Draconians are people, too.

P. S.: Leider nicht übersetzt wurde „Draconian Measures“, der zweite Band der „Kang’s Regiment“-Duologie. Darin suchen die Drakonier mit ihren frisch geschlüpften Weibchen entsprechend einem Übereinkommen mit den Neidar nach einer neuen Heimat – was vermutlich ein Plothole hin zu Takhisis‘ finalem Kampf aus „Die Kinder der Drachenlanze“ füllt. Aber das ist nur eine Vermutung, ich habe den Band nicht gelesen.

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[1] Der Fairness halber: Völlig unkritisch waren auch die „Chroniken“ nicht. Es ist lange her, dass ich sie gelesen habe, aber die traditionelle Arroganz der Elfen z. B., die sich auf ihre eigene moralische Überlegenheit einiges einbilden, hat meiner Erinnerung nach auch hier, wie in so vielen Fantasy-Romanen, eine Rolle gespielt. Sie wurde u. a. durch die Versklavung der „Wildelfen“ vergleichsweise plastisch dargestellt. (Siehe dazu auch Peters ersten Beitrag in der Reihe, in dem er sowohl die „Chroniken“ als auch die Ethik, die wohl hinter der grundsätzlichen Einteilung stand, etwas näher beleuchtet. )

[2] Nach den „Legenden“ wird die Zuordnung der deutschen Sub-Reihen zu den englischsprachigen Ur-Trilogien etwas wirr. Die „Second Generation“ wird in den „Geschichten der Drachenlanze“ und dem Einzelband „Die zweite Generation“ eingeführt. Der Chaos War wird weitgehend in den „Erben der Drachenlanze“ erzählt, der War of Souls in „Die Kinder der Drachenlanze“, dazwischen steckt aber noch „Die Nacht der Drachenlanze“ mit Jean Rabes Dhaemon-Saga aus der unruhigen Zeit zwischen Chaoskrieg und Seelenkrieg. Zugleich beinhaltet die deutschen Zählung unabhängige Bände außerhalb der Haupttrilogien und es gibt weitere Nebenreihen (z. B. „Das Heldenlied der Drachenlanze“). Erst mit „Dark Disciple“ wird die Sache wieder klarer, hierbei handelt es sich auf Deutsch um „Die Jünger der Drachenlanze“, auch bekannt als Mina-Trilogie (die übrigens auf Deutsch, anders als die anderen Trilogien mit Ausnahme der „Lost Chronicles“ / „Verlorenen Chroniken“, nicht in sechs Bände geteilt wurde, sondern in der Originalzusammenstellung verblieben ist).

[3] Fun fact: „Die Grube der Feuerdrachen“ kam dabei innerhalb der Fan-Community zu einiger Berühmtheit, da der Band mysteriöserweise bald nur noch zu horrenden Schwarzmarkt-Preisen erhältlich war. Ich weiß noch, wie ich mal ernsthaft überlegt habe, 42 Euro auszugeben, als ich das dünne Buch auf der Role Play Convention gebraucht entdeckte. Zum Glück für meinen Geldbeutel und diesen Artikel erschienen jedoch ab 2003 nach und nach die hässlichen, aber kostengünstigen Neuausgaben, und so kam ich 2005 endlich in den Besitz beider Bände.

[4] Ungeachtet dessen, dass die Bezeichnung als „Drakonier / Draconians“ nicht besonders weit verbreitet ist, gibt es natürlich eine ganze Reihe von Echsen-/Reptilienhumanoiden in den Weiten von Fantasy und Science Fiction.

[5] Eine passende Besprechung zu Dunstans Manuskript habe ich bei der Recherche zufällig auf dem Blog Sky Bear Games von James und Claire Dunning gefunden, wo jemand einen XXL-Reread der Reihe gewagt hat.

[6] Daneben gibt es wohl theoretisch noch einige andere Drakonierarten, u. a. die aus den Eiern der bösen Drachen geschlüpften guten Drakonier, aber die spielen für Drachenlanze nur eine untergeordnete Rolle und sind zumindest mir in keinem Roman begegnet .

[7] Bezüglich „es gibt keine Toten zu beklagen“, muss ich eine Einschränkung vornehmen: Das Buch widerspricht sich in diesem Punkt. Mehrfach wird betont, dass es zu dem Zeitpunkt, an dem das Buch spielt, keine Toten mehr bei den Überfällen gebe und die Waffen daheim gelassen werden. Andererseits wird direkt beim ersten im Buch geschilderten Überfall beschrieben, dass mehrere Zwerge „versehentlich“ sterben. Ich vermute hier einen Übersetzungsfehler.