Rediscovering French Science Fiction …

Rediscovering French Science Fiction …

4. Februar 2023 7 Von FragmentAnsichten

… in Literature, Film and Comics: From Cyrano to Barbarella. Eine Besprechung

Sicher können die meisten Blogbesucher*innen mit „französischer Phantastik“ den einen oder anderen Namen oder Begriff verbinden: Métal Hurlant oder Michel Houellebecq, Mœbius oder „Das fünfte Element“, Pierre Boule oder das halbe Splitter-Verlagsprogramm. Daneben sorgen z. B. die ESFS Awards oder Online-Magazine dafür, dass man immer mal den einen oder anderen Namen aufschnappt.

Trotzdem kann zumindest ich nicht von mir behaupten, einen Überblick über die Phantastikszene des Nachbarlandes zu haben, schon gar nicht wenn es um Literatur geht – obwohl doch einige Übersetzungen zeigen, dass es in Frankreich offenbar einen Markt für nationale SFF gibt. Höchste Zeit also, etwas gegen meine Wissenslücke zu tun. Als erste Maßnahme erschien es mir zielführend, dafür den Band „Rediscovering French Science Fiction in Literature, Film and Comics“ zu lesen, herausgegeben von Philippe Mather und Sylvain Rheault.

Ein Gemischtwarenladen aka Tagungsband

Nun muss man dazu sagen: Es handelt sich hierbei um einen Tagungsband, der zum Großteil Verschriftlichungen von Vorträgen der Veranstaltung „POW! In the Eye of the Moon“ sammelt. Die fand bilingual 2012 in Regina (Kanada) statt, der englischsprachige Band erschien 2016.

Solche Tagungsbände haben normalerweise nicht den Anspruch, einen Überblick oder roten Faden zu einem Großthema zu bieten, vielmehr suchen sich die Teilnehmenden aus, worüber sie referieren und schreiben. Dadurch kann es passieren, dass man einerseits Beiträge hat, die einen großen Bogen über mehrere Jahrzehnte spannen, und andererseits solche, die die Vater-Sohn-Beziehung in einem seit fünfzig Jahren nicht mehr erhältlichen Kurzroman von 1920 beleuchten.

Auch „Rediscovering French Science Fiction …“ hat in dieser Hinsicht eine nicht reizlose, aber doch eigenwillige Mischung zu bieten. Der Band ist in drei Themenbereiche unterteilt: Proto Science Fiction, Moderne SF-Literatur und schließlich SF in Film und Graphic Novels/Comics. Den ersten beiden Teilbereichen sind jeweils Überblicksartikel des 2014 verstorbenen Literaturwissenschaftlers Dr. George Slusser vorangestellt, der dritte bietet zwei verschiedene Einführungen durch die beiden Herausgeber. Diese vier Beiträge sind für eine Einführung ins Thema gut geeignet, wenngleich ich es schade finde, dass aktuelle Veröffentlichungen kaum Beachtung finden – vor allem in Sachen Literatur scheint die Geschichte der Science Fiction 1970 zu enden. Was die anderen Beiträge angeht, so behandeln sie vornehmlich bestimmte Titel oder Schriftsteller*innen, wobei sich insbesondere Cyrano und „Barbarella“ (Comic wie Film) besonderer Beliebtheit erfreuen, darauf bereitet ja schon der Titel des Bandes vor. Aber auch Jaques Spitz[1], S. S. Held, René Barjavel, Maurice Renard und Jules Verne werden besprochen, ebenso gibt es vertiefte Einblicke zu Geschichte und Einfluss von Métal Hurlant und zum Film „Renaissance: Paris 2054“. Positiv hervor stechen daneben ein Beitrag von Sylvain Rheault, in dem er die Darstellung von Robotern in französischen und japanischen Animationsserien vergleicht, sowie ein Beitrag der frankokanadischen Autorin Élisabeth Vonarburg, in dem sie ihr eigenes transnationales Verhältnis zur Science Fiction darstellt. Insgesamt gibt es sechzehn Beiträge.

Ich möchte nun nicht jeden dieser Beiträge einzeln besprechen, aber ein paar allgemein gewonnene Erkenntnisse festhalten.

Sich selbst ein stolzer Wolf

Generell scheint sich die französische Science Fiction oft in einer Auseinandersetzung mit sich selbst befunden zu haben – was nicht allzu verwunderlich ist, im deutschsprachigen Raum kann man schließlich ebenfalls beobachten, wie verschiedene Akteur*innen und Subszenen um Deutungshoheiten kämpfen.

In Frankreich fing es schon bei Jules Verne an, der Ende des 19. Jahrhundert vielen seiner Landsleute als zu technikverliebt galt und gerne parodiert wurde, prominent etwa 1902 in George Méliès‘ „Die Reise zum Mond“[2]. Auch dass Vernes Bücher illustriert waren, passte nicht jedem, es erschien manchem als kindisch und rückte die SF zunächst in Richtung Jugendliteratur. Diese Skepsis gegenüber illustrierter SF hielt sich lange, was paradox ist, wenn man die spätere stolze Haltung zu Comics bedenkt – die wiederum der zeitweisen Schmähung von Métal Hurlant gegenübersteht. Diese paradoxen oder gar „bipolaren“ Verhältnisse werden von den Beitragenden des Bandes immer wieder betont.

Eine rote Kapsel sticht einem Mond mit Gesicht ins Auge.
Landung der Kapsel auf dem Mond. Handcolorierter Druck zu „Die Reise zum Mond“ (via Wikimedia)

In den 1950er Jahren erfreute sich die Golden-Age-Literatur aus den USA großer Beliebtheit in Frankreich. Einerseits. Andererseits war sie vielen einheimischen Science-Fiction-Schreibenden ein Dorn im Auge, und auch französische Pulp-Serien, die sich am US-Stil orientierten (vornehmlich aus dem Hause Fleuve Noir), hatten es schwer bei den Kollegen. Die Redaktion des Magazins Fiction, was eigentlich die französische Variante des Magazine of Fantasy and Science Fiction darstellten sollte, schickte sich daher bald an, ihre Vision einer seriöseren und unabhängigeren französischen Science Fiction voranzutreiben. Zwar veröffentlichten sie weiterhin, was das Muttermagazin ihnen an US-Literatur vorgab, allerdings gaben sie in parallelen Essays unumwunden ihre Meinung dazu ab (Robert A. Heinlein schnitt dabei z. B. schlecht ab, Philipp D. Dick gut). Zudem ermutigten sie einheimische Autor*innen, SF im Sinne der Redaktion zu verfassen. Die Folge war dann laut Slusser eine „Renaissance der französischen Literatur in den 1960er und 1970er Jahren“ – bloß wird diese, ebenso wie alles was danach kam, nicht weiter besprochen. Erwähnt wird aber, dass diese „neue“ SF der 60er und 70er einen surrealen, mitunter „paranoiden“ und „klaustrophobischen“ Stil gehabt habe.

Apropos – was macht sie nun eigentlich stilistisch aus, die französische Science Fiction?

Ich fühle, also bin ich

Betont wird die Nähe zum Surrealismus, kartesianischen Solipsismus (=“ich denke, also bin ich“) und Traum-/Fantasiereisen. Allerdings genoss die SF bei „Intellektuellen“ keinen guten Ruf, ganz egal, wie sehr sie sich um einen eigenen oder gar avantgardistischen Ton bemühte. Den meisten war sie zu technophil (Verne lässt grüßen), und auch das ist wieder recht bemerkenswert, denn eigentlich gilt die französische Science Fiction nicht als besonders technikverliebt. Der Zweite Weltkrieg hatte in dieser Hinsicht eine Fortschrittsskepsis mit sich gebracht, die sich durchaus auch in der angloamerikanischen Genreliteratur findet, dann aber mehr in (post-)apokalyptischen Werken. In der französischen Science Fiction brachte sie mit sich, dass Technik im Allgemeinen und Maschinen im Besonderen negative Effekte hervorriefen. Die Aufgabe der Helden war es dann, diese Effekte rückgängig zu machen oder eben die Welt zu retten.

Besonders interessant ist in dieser Hinsicht das bereits genannte Essay von Sylvain Rheault („Cartoon Robots vs. France“) zum Vergleich der Darstellung von Robotern in französischen und japanischen Cartoons: Während sie in Japan hilfreich und mit guten Absichten auftreten, dabei sogar die Rolle von Protagonisten einnehmen dürfen, sind sie in Frankreich fast immer das Produkt eines verrückten Wissenschaftlers, der mit ihrer Hilfe die Welt vernichten oder wenigstens unterjochen will. Rheault sieht die Gründe dafür erstens in der unterschiedlichen Bewertung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs: Wo Frankreich vor allem die hohen Opferzahlen durch die technische Entwicklung sah, betrachtete Japan entsprechende Progression als Mittel zum Sieg. Zweitens könnten aber auch religiöse Hintergründe eine Rolle spielen, da nach shintoistischem Glauben Maschinen eine Seele besitzen können, nach katholischem hingegen nicht.

Rheualt zufolge hat sich das Bild auch in Frankreich in den 1980ern u. a. unter dem Einfluss japanischer Mangas und Animes geändert. Dennoch behauptet er, es gäbe bis „heute“ (2014) keine französischen Werke mit Robotern als Protagonisten, was ich doch recht bemerkenswert fände.

Mit der Liebe der französischen SF-Schreibenden zum Surrealismus und zu Traumwelten geht einher, dass die Grenzen von Fantasy und Science Fiction oft verschwimmen. Wobei man an diesem Punkt anmerken muss, dass außerhalb Deutschlands diese Trennung in Europa selten allzu ernst genommen wird – man vergleiche nur mal die deutschen Nominierungen für die ESFS Awards mit denen der übrigen Länder. Jedenfalls, Space Fantasy und Science/Rational Fantasy stehen in Frankreich hoch im Kurs, das betonen die Autor*innen der Beiträge immer wieder. Auch ein gewisser Einfluss der New Wave scheint da gewesen zu sein, und trotz aller Liebe zum Surrealen gibt es durchaus einen Markt für „Hard Near Future“, vor allem in Sachen Film.

Mehrfach wird im Band auch von „Noir Science Fiction“ gesprochen, etwa wenn es um den extrem interessant wirkenden Animationsfilm „Renaissance: Paris 2054“ geht. In diesem Zusammenhang hätte mich interessiert, wo die Grenze zum Cyberpunk gezogen wird, dieser Begriff wird aber komplett vermieden.

Ein Klick aufs Bild führt zum Trailer von "Renaissance: Paris 2054" auf YouTube. Bild zeigt Schwarzweiß-Ansicht von Paris mit Hochhäusern und der  Sacré-Cœur
Paris Noir. Ein Klick aufs Bild führt zum Trailer von „Renaissance: Paris 2054“ auf YouTube

Übrigens hätten sich auch Abstecher in die Begriffsgefilde des Dreampunk gelohnt, aber das erwarte ich ja gar nicht. So viel ist aber sicher, in Frankreich wird das Geistige betont, das Immersive. Alles außerhalb des Geistes gilt als unsicher.

Aber, und auch hier haben wir wieder einen scheinbaren Widerspruch, ist das nur eine Seite der Medaille. Es geht nicht um ein „mind over body“, im Gegenteil spielt das sinnliche Empfinden eine viel größere Rolle als in der (frühen) US-Science-Fiction. An diesem Punkt kommen wir dann natürlich zu Jean-Claude Forests „Barbarella“, erstmals erschienen 1962, verfilmt 1968. Erneut ein Beispiel, das schon in sich lauter Widersprüche vereint: Mazin Saffou spricht von sexuellem Utopismus, der auf „sex kitten“-Kapitalismus trifft. Er betrachtet „Barbarella“ als postmodernes Werk und postuliert „ich fühle, also bin ich“ schlussendlich als sinngebenden Leitsatz nicht nur für „Barbarella“.

Ein Klick führt zum Trailer von Barbarella. Bild zeigt Barbarella, eine Frau mit vollen blonden Haaren und kurzer Lederkluft von hinten, wie sie durch eine Art Pilz-Spinnennetz-Landschaft läuft.
Barbarellas psychedelische Welten. Ein Klick aufs Bild führt zum Trailer auf YouTube.

Eine männliche Bastion?

Sie sind offensichtlich stolz auf ihre „Barbarella“, die Autor*innen des Bandes. Auch wenn sie aller „womblike“ Ästhetik zum Trotz nur bedingt als feministische Ikone gelten könne, habe sie doch die Heldinnen in die Science Fiction gebracht, so sieht es jedenfalls Alexandra Rolland. Zudem inspirierte Barbarella gemeinsam mit Métal Hurlant das feministische Comic-Magazin Ah! Nana!, das von 1976 bis 1978 erschien.

Schön und gut, aber ansonsten krankt der Sammelband an dem typischen SF-Problem, dass so getan wird, als habe es weibliche Wesen zwar in den Büchern gegeben, aber nicht davor. Slusser spricht im Zusammenhang von Fiction als „male bastion“ (S. 67) und keines der besprochenen oder auch nur erwähnten Werke stammt von einer Frau bzw. weiblich gelesenen Person.

Vielleicht wurde deshalb Élisabeth Vonarburg eingeladen, am Sammelband mitzuwirken, obwohl ihr sehr persönlich gehaltener Beitrag in mehrfacher Hinsicht herausfällt: In „Writing Science Fiction“ beschreibt sie, wie sie selbst dank der Magazine Fiction und Galaxie Zugang zur Science Fiction fand – und nennt dabei mit Nathalie Henneberg und Christine Renard erstmals auch französische Genre-Autorinnen. Trotzdem waren es US-Schriftstellerinnen wie Ursula K. Le Guin, Joanna Russ, James Tiptree Jr. oder Judith Merril, die sie dazu brachten, selbst Science Fiction zu schreiben:

„Thanks to Le Guin’s novel [„Die linke Hand der Dunkelheit”], those inchoate, nebulous feelings gave birth to my little “sun”: I wanted to be – and it was not only possible but allowed – a science fiction writer.”

S. 128

Dabei betont sie, dass es für sie außerhalb von Frankreich keine große Rolle gespielt habe, als Frau Science Fiction zu lesen oder zu schreiben. Für die angloamerikanische Szene scheint es bemerkenswerter gewesen zu sein, dass Vonarburg in Frankreich aufgewachsen ist. Mit 26 zog sie nach Quebec, wurde Teil der dortigen, damals sehr lebendigen (frankophonen) Phantastikszene, der u. a. auch Esther Rochon angehörte. Vonarburg selbst – die aus einer franko-kambodschanischen Familie stammt – hält aber wenig davon, als im Stil französisch gefärbte Schriftstellerin zu gelten:

„As for me, I would say that, since the choice of a genre is also the choice of a language for writers – the kind of stories they are able to tell, the way they are able to tell them – I write in science fictionese.”

S. 130

Unterschiede im Schreiben oder in der Interpretation von Werken negiert sie jedoch nicht, macht sich insofern für eine kosmopolitanische Sichtweise auf Science Fiction stark, die ich durchaus begrüße.

Übrigens ist Vonarburg auch die einzige ~besprochene Person im Band, deren Werke nach 1960 erschienen sind.

Alors …

Es gibt noch einige andere Themen, auf die der Band Schlaglichter wirft: Eine große Rolle spielt etwa die Zeit zwischen den Weltkriegen, die von Weltuntergangsliteratur, von einer Vorliebe für Zeitreisen und der Angst vor dem Zusammenbruch der Metallindustrie geprägt war. Recht ausführlich wird zudem der Geschichte der Comics in Frankreich von der Jahrhundertwende bis ins Jahr 1987 nachgegangen und deren im Vergleich zu US- oder japanischen Comics detailreich ausgearbeiteten Hintergründen und Settings.

Nach den 80er Jahren haben die Franzosen dann offenbar nur noch Filme gedreht. Laut Philippe Mather sind 80 % der französischen Science-Fiction-Filme erst nach 1980 entstanden, für Comics und Literatur war dann halt keine Zeit mehr. Dafür scheint sich in dieser Zeit die „Bipolarität“ aufgelöst zu haben, die bearbeiteten Themen und Subgenres wurden vielfältiger. Filme, die Mather als Beispiele nennt, sind z. B. Enki Bilals „Immortal, Ad Vitam“ oder Marc Caros „Dante 01“.

Schön wäre es halt gewesen, der Band hätte sich um einen diverseren Blick bemüht. Eingangs erwähnen die Herausgeber, dass nicht alle Beiträge der Tagung entstammen, ein paar kamen separat hinzu. Da hätte es sich angeboten, auch wenigstens je ein Essay zu Post-1980-Veröffentlichungen in Sachen Literatur und Comic anzufügen. Vonarburg schreibt in ihrem Essay, früherTM sei mehr französische SF-Literatur erschienen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass z. B. der Selfpublishing-Trend nicht auch dort angekommen ist. Und dass sich in Sachen Comic weiterhin viel tut, verrät schon ein Blick ins Splitter-Verlagsprogramm.

Insofern: Für einen ersten Einblick in die Geschichte der französischen Science Fiction ist der Sammelband nicht schlecht, außerdem bietet er interessante Schlaglichter. Um sich über im weitesten Sinne aktuelle Science Fiction oder gar Fantasy zu informieren, braucht es aber andere Quellen.

Cover von "Rediscovering French Science-Fiction in Literature, Film and Comics. From Cyrano to Barbarella." Zeigt eine Szene mit Pilzwald aus "Reise zum Mond"

„Rediscovering French Science-Fiction in Literature, Film and Comics: From Cyrano to Barbarella” von Philippe Mather und Sylvain Rheault, Cambridge Scholars Publishing 2016, ISBN: 978-1-4438-8676-5

Mehr Infos zu internationaler Science Fiction und Fantasy gibt es u. a. in den folgenden Beiträgen:


[1] Funfact: Im Beitrag über Jaques Spitz bezeichnet Patrick Guay diesen als „lost father“ der französischen Science Fiction. Slusser wiederum verleiht den unverlorenen Vater-Titel an Jules Verne.

[2] Übrigens gilt „Die Reise zum Mond“ als erster französischer Science-Fiction-Film. Auf ihn beziehen sich auch der Name der Tagung und das Titelbild des Sammelbandes.