Frühlingsansichten 2022

Frühlingsansichten 2022

1. Mai 2022 0 Von FragmentAnsichten

Drei Monate sind die letzten Monatsansichten her. Einerseits war es erleichternd, nicht mehr monatlich diese Großbaustelle anzugehen, andererseits habe ich trotzdem jeden Monat ein paar Eckthemen / Beiträge / Artikel usw. gesammelt. Diese nun im Trello-Board versauern zu lassen, ist auch irgendwie schade. Also versuche ich etwas Neues bzw. greife viel eher auf meine altbewährte und bereits angedrohte Lösung zurück: Ich wähle den MITTELWEG! Heißt, die Monatsansichten werden zu Jahreszeitenansichten und kommen (dem Plan nach) nur noch alle drei Monate mit meinen persönlichen Themen-Best-Offs oder Themen, die ich aus anderen Gründen nicht guten Gewissens ignorieren kann.

Ok? Shiny.

Vincent gewinnt Vincent und weitere Award-News von SERAPH bis ESFS

Das Frühjahr ist traditionell die Zeit der Nominierungen und der ersten Awards. Ganz frisch kamen gestern die Ergebnisse des Vincent Preises herein, der auf Horror- und Schauerliteratur spezialisiert ist und nach einer Pause 2021 nun wieder Fahrt aufgenommen hat. Über den Preis freuen können sich u. a. Vincent Voss für „Im Eis“, Günther Kienle für die Kurzgeschichte „Der Fall Ernesto Tortuga – Maitre und Kosmonaut“ (aus „Das geheime Sanatorium“), Michael Schmidt und Achim Hildebrand für Zwielicht 16 oder Adrian Doyle in der Heftroman-Kategorie für verschiedene Professor Zamorra-Bände. Die kompletten Ergebnisse finden sich auf dem Blog des Vincent Preises.

Bereits Ende März wurde zudem in einer Online-Veranstaltung der SERAPH vergeben, der in diesem Jahr an Joshua Tree (Bestes Buch mit „Singularity“), Tanya Hartgers (Bester Independent-Titel mit „Crimson Dawn“) und Eleanor Bardilac (Bestes Debüt mit „Knochenblumen welken nicht“) ging. Die Verleihung mit anschließenden Gewinnerlesungen lässt sich auf YouTube nachschauen.

Bekanntgegeben wurden weiterhin die Nominierungen für den Kurd-Laßwitz-Preis (KLP) und den Deutschen Science Fiction Preis (DSFP). In den letzten Jahren hatte ich hier vor allem darüber gemeckert, dass die Nominierungen sehr Bubble-lastig (und damit einhergehend wenig divers) waren. Ich habe den Eindruck, dass sich das gebessert hat. Besonders hervorheben möchte ich, dass Janna Ruths „Memories of Summer“ es in beiden Fällen geschafft hat, nominiert zu werden – obwohl Cover, Titel und Verlag nicht nach generischer SF schreien, um es höflich auszudrücken. Dass durch solches genrefremdes Marketing gerade weibliche bzw. weiblich gelesene Autoren oft weniger Chancen auf SF-Awards haben, war mein Fazit nach dem Cyberpunk-Vortrag letztes Jahr im Rahmen der Phantastik Tage Wetzlar. Aber wie gesagt, hier ein schönes Beispiel, dass sich hoffentlich etwas tut (wenngleich ich zum Inhalt bzw. der qualitativen Nominierungswürdigkeit des betreffenden Buchs wenig sagen kann). Dass ich selbst mit der Kurzgeschichte „Dialog im Baltikum“ für den DSFP nominiert bin, freut mich ebenfalls sehr,[1] allerdings macht es mich natürlich ein Stück weit befangen. Auf Twitter habe ich schon gelesen, dass andere wiederum kritisiert haben, dass nur bestimmte Szeneecken dieses Jahr berücksichtigt würden. Also vielleicht sehe ich das Ganze bloß rosarot, weil nun meine Szeneecke mehr Beachtung findet?

Apropos Bubbles und Szeneecken: Im Zuge des EuroCon, der dieses Jahr vom LuxCon ausgerichtet wurde, fand auch die Verleihung der European Science Fiction Society Awards (ESFS) statt. Diese sind in der Theorie eine sehr schöne Institution und eine gute Möglichkeit, herauszufinden, was sich eigentlich außerhalb der eigenen Länder- oder Sprachgrenzen so in der europäischen Phantastik tut. In der Praxis handelt es sich allerdings um ein in der Organisation arg undurchdringliches Gebilde, bei dem viel von der Meinung weniger Leute abhängt, und das außerhalb des informierten Kerns kaum jemand kennt. Nachdem es um Deutschland lange ziemlich still war, hat sich, wie in einer der letzten Monatsansichten schon berichtet, dieses Mal der SFCD der Sache angenommen und über scifinet.org nominieren lassen.

Die Verleihung selbst – ohne Erfolg für Deutschland, aber mit österreichischem Chrysalis Award für Eleanor Bardilac – war wohl eine eher lieblose Angelegenheit, wie ein Forenbericht von Carsten Schmitt nahelegt. Einer der Initiatoren hat dann noch etwas Licht ins Dunkel des ganzen Prozederes gebracht. Dabei merkt er u. a. an, dass die Beteiligung für die Nominierungen zu gering gewesen sei. An dem Punkt muss man sagen: Im Vergleich geht der SFCD – dem man zugutehalten muss, die Sache überhaupt in die Hand genommen und organisiert zu haben – zwar sehr transparent vor. Dennoch ist scifinet.org sicher nicht die inklusivste Szene-Plattform. Erwähnt werden sollte darüber hinaus, dass die ESFS Awards eigentlich nicht SF-exklusiv sind; auch Fantasy-Werke können nominiert werden. Nun … theoretisch kann aber jeder über das Forum abstimmen, für 2023 läuft die Nominierung bereits. Und die Gewinnerliste zu 2022 kann auf der Website der ESFS eingesehen werden.

Der Ukrainekrieg und die Phantastik

Bei aller Nominierungs- und Awardlaune: Auch innerhalb der Phantastikszene ist der Krieg in der Ukraine natürlich ein stets präsentes Thema. Die Ukraine hat(te) selbst eine aktive nationale Fan- und Phantastikszene – wofür wiederum die ESFS Awards Zeugnis tragen. Nicht nur wurden dieses Jahr mit Yuri Shevela (Best Promoter) und Dark-Fantasy-Autor Pavlo Derevianko (Chrysalis Award) zwei ukrainische Aktive geehrt, auch in den letzten Jahren fand sich die Ukraine häufig unter den Gewinnernamen, z. B. mit dem Verlag Zhupansky (2018), Natalia Sherbas „Chasodei“ als bestem Kinderroman (2017) oder Yaryna Katorozh und Natalia Savchuk bei den Chrysalis Awards (2018, 2017). 2013 fand der EuroCon sogar in Kiew statt. Zu den Szenemitgliedern gehörte auch Leonid Kourits, der am 6. März dem Krieg zum Opfer fiel, wie Klaus N. Frick auf seinem Blog berichtet.

Ein Überblick über ukrainische Phantastik erschien 2018 im Locus Magazine, einen Podcast-Beitrag zum Thema bot StarShipSofa. Auf Deutsch findet sich nicht allzu viel an Übersetzungen ukrainischer Phantastik-Autor*innen, aber Piper brachte 2008 den antiquarisch problemlos zu bekommenden Fantasy-Roman „Das Jahrhundert der Hexen“ aus der Feder des Autoren-Ehepaars Serhiy und Maryna Dyachenko. In der Anthologie „Rund um die Welt in 80 SF-Geschichten“ erschien zudem eine Kurzgeschichte von Volodymyr Arenev. [Edit: Am 6. Mai kam die Meldung, dass Serhiy Dyachenko am 5. Mai in seiner kalifornischen Wahl-Heimat verstorben ist.]

Macht und Verantwortung in vernetzten Zeiten

Szeneintern führten indes vor allem auf Social Media zwei Diskussionen für verhärtete Fronten, die auf den ersten Blick nicht so viel miteinander zu tun hatten, aber ein bisschen doch.

Zunächst war da der offene Brief, der mehr Sichtbarkeit für James Sullivans Mitarbeit an „Die Elfen“ forderte. Da sich die Beteiligten inzwischen offenbar geeinigt haben, will ich eigentlich gar nicht mehr viele Worte dazu verlieren. Andererseits hat der Brief in meinem Szene-Freundeskreis Gräben von einem doch bemerkenswerten Ausmaß hervorgebracht, weil es für viele eine Entweder-Oder-Angelegenheit zu sein schien. Daher doch noch ein paar kurze Worte, die vielleicht beide Seiten abholen oder sie zumindest in Wut vereinen, dunno: Das Netz ist kein hierarchiefreier Ort, keineswegs. Doch es schafft neue Machtstrukturen, die alten entgegenstehen können. Entsprechend kann Community-Macht der lange wenig in Frage gestellten Macht von Wirtschaftsunternehmen – in diesem Falle Verlagen – entgegentreten. Das ist gut so. Nur weil ein Unternehmen juristisch im Recht ist, weil es zu einem vorangegangenen Zeitpunkt die damaligen Strukturen besser für sich zu nutzen wusste, heißt es nicht, dass es nicht Widerworte selbst von dritter Seite erwarten darf (auch wenn es vielleicht letztlich vorrangig nur ein Kommunikationsproblem gab). Und wenn diese dritte Seite, hier eine Community, wiederholt ignoriert wurde, darf sie zu lauteren Maßnahmen greifen. Zugleich geht mit dieser, nennen wir sie Guerilla-Macht, aber neue Verantwortung einher – das alte Lied, ihr kennt das. Heißt: Werden Semi-Betroffene in den Empörungssog hineingezogen, darf sich die Community da nicht aus der Verantwortung und Guerilla-mäßig zurück-ziehen. Eigendynamik, es ist ein Fluch und Segen von Netzdiskussionen.

Womit wir zum zweiten Streitpunkt kommen: Rezensionsverrissen.

Zu diesen stand hier bis zum Mittag des 2. Mai in der ersten Version ein längerer Text, in dem ich auf die beiden voneinander weitgehend unabhängigen Fälle eingegangen bin, die den Brennpunkt zuletzt ausgelöst hatten. Nach einmal drüber schlafen habe ich mich aber entschlossen, den Absatz zu entpersonalisieren. Daher nur drei kurze Feststellungen meinerseits hierzu:

  1. Jeder kann grundsätzlich zu jedem Buch schreiben, was er*sie mag. Rezensionen sind in erster Linie für die Lesenden, nicht für die Schreibenden. Gerne dürfen sie auch mal harsch formuliert sein; ein Verriss kann ein Genuss sein und das Verweilen bei bloßen Nettigkeitsrezensionen bringt uns nicht weiter.
  2. Allerdings, Teil 1: Troll-Rezensionen sind keine paranoide Fantasie. Ich kam einmal in den Genuss, was es heißt, einen kleinen, aber ziemlich auf Krawall gebürsteten Teil der SF-Szene zu verärgern. Spätestens seitdem glaube ich durchaus, dass es in den Weiten des Netzes Leute gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, mit eigenes erstellten Accounts ihnen unliebsame Autor*innen mit 1-Sterne-Rezensionen abzuwerten. Communitymacht, da haben wir sie wieder. (Und ja, die gibt es mit all ihren Vorzügen und Problemen durchaus in verschiedenen Teilen der SF(F)-Szene.)
  3. Allerdings, Teil 2: Als Autorin die Werke von Kolleg*innen zu rezensieren, ist immer eine Gradwanderung (ausführlichere, wenngleich etwas in die Jahre gekommene Gedanken dazu in diesem Beitrag).

Davon ab: Mehr Ansehen für die 3-Sterne-Rezension![2]

Illustration mit Monstern, die eine Blüte anschauen
Da ist eine Blüte, passt also zum Frühling. Und irgendwie auch zur Stimmung.
(„The Parable of the Weeds“ von madeincg via DeviantArt unter CC BY NC ND 3.0)

Szenekarussell

Neben diesen Großthemen gab es in den letzten drei Monaten wieder viele spannende kleinere Meldungen und Beiträge, die aber trotz des neuen Formats nicht untergehen sollen. Beispielsweise wurde die Fantasy-Sparte des Piper Verlags 20 Jahre alt, yay![4]

Neuigkeiten gibt es ebenso aus der Magazinlandschaft: Das Future Fiction-Magazin startete recht erfolgreich mit seiner ersten deutschsprachigen Ausgabe.[5] Und Heike Knopp-Sullivan gesellte sich zum Herausgeber*innen-Team der Queer*Welten. Darüber hinaus haben von der phantastisch! bis zur We are bookish verschiedenste Magazine neue Ausgaben herausgebracht.

Und online? Bartholomäus Figatowski (@Metaphernpark auf Twitter) veröffentlichte kürzlich via scifinet-Blog den ersten Teil seines 2015 im Heyne-SF-Jahr erstveröffentlichten Artikels „Splitter im Auge Gottes – Wie die Science Fiction den Ersten Weltkrieg erinnert“. Peter Schmitt wiederum warf u. a. einen Blick zurück auf die Jugendromane „Das magische Schwert / Die magische Krone“ von Graham Duncan, auf Pat McIntoshs Thula-Geschichten und auf … Fell-Bikinis.

In unserem alljährlichen Klassiker-Reread widmeten wir uns dieses Jahr gemeinsam mit Sören Heim Esther Rochons „Der Träumer in der Zitadelle“ (Teil 1, Teil 2, Teil 3); passend dazu schloss Sören etwas ernüchtert seine Lektüre von Rochons Folgebänden ab. Bei mir wiederum ging es in den letzten Monaten (wie ihr natürlich wisst, weil ihr alle regelmäßig den Blog lest) ums MCU, um Bücher zu Filmen, um die Unterschiede zwischen Grimdark und Dark Fantasy sowie in einem Gastbeitrag von Tino Falke um Batman.

Tja. Soweit also zu den letzten drei Monaten. Schauen wir nun mal, was der Sommer so alles bringt …

Und wenn ihr meine Ansichten mögt, ob sie nun monatlich oder … jahreszeitlich folgen, freue ich mich weiterhin über Spenden via Ko-Fi. Dann kann ich das Ganze hier vielleicht noch eine Weile laufen lassen.


[1] Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nicht meine größte Stärke, aber in Anbetracht dessen, dass eine meiner Mitnominierten gleich mehrfach am Start ist – und das sowohl beim KLP als auch beim DSFP – rechne ich mir keine allzu großen Chancen auf den Gewinn aus. Trotzdem ist es schön, auf diese Art überhaupt mal mitzubekommen, dass die eigenen Werke gelesen werden und ankommen. Gerade bei Kurzgeschichten fallen die Reaktionen oft ja eher gering aus.

[2] Latürnich gehen auch 1-Sterne- und 2-Sterne-Rezensionen klar, wenn’s denn halt sein muss. Aber ich finde, 3-Sterne-Rezensionen haben zu Unrecht einen schlechten Ruf. Ein Buch, das einen genug beschäftigt, um sich mit dem Für und dem Wider auseinanderzusetzen, muss schon was haben!

[3] Hier stand mal was, es wurde herausgekürzt, aber da WordPress die Zahlen nicht automatisch anpasst, kann ich die Nr. 3 nun nicht einfach herauslöschen, ohne das ganze Layout zu killen. Hm. Ja. Und, was geht bei dir so, werte lesende Person?

[4] Funfact: Vor acht Jahren hatte ich mal ein Vorstellungsgespräch als Volontärin bei Piper ivi. Wurd‘ aber nix draus und ich kam stattdessen bei einer Redaktion in Hürth unter, wodurch ich heute nicht nur über Phantastik, sondern auch über E-Learning schwadroniere. Vermutlich ist das gut so, sonst hätte ich ja gar keinen Ausgleich und von außen genießt sich das Lesen des respektablen Piper-Programms besser. Außerdem gab’s in der Hürther Redaktion zumindest genug Gehalt, um sich eine Ein-Zimmer-Wohnung leisten zu können, was man von manchen Münchner Verlagen zumindest 2014 nicht behaupten konnte.

[5] Da es sich um das erste deutschsprachige Magazin handelt, das sich gezielt (u. a.) dem Solarpunk widmet, wundert es mich etwas, wie sehr diese Veröffentlichung an der ~progressiven Szeneecke vorbeigegangen zu sein scheint. Jo, das Magazin kommt aus einer „traditionelleren“ Ecke und zumindest einer der Beteiligten ist unter den „Progressiven“ (wie das immer klingt) nicht allzu beliebt, um es vorsichtig auszudrücken. Aber hätte dennoch etwas mehr Rezeption erwartet; die Inhalte bleiben ja spannend und Freyberg und Post scheinen sich mir durchaus um Diversität zu bemühen. (Muss zugeben, wiederum selbst noch nicht zu einem genaueren Blick gekommen zu sein. Wobei ich zumindest Francesco Versos sense of wander-Vortrag nun schon mehrmals live mitbekommen habe, z. B. beim „The Best of World SF“-Launch-Event und insofern in Essay-Hinsicht keine für mich großen neuen Erkenntnisse erwarte.)