Szene- und Dezemberansichten 2021

Szene- und Dezemberansichten 2021

31. Dezember 2021 0 Von FragmentAnsichten

2021 haben wir viel diskutiert, in Nostalgie geschwelgt, Genres ausgegraben und weiterentwickelt, mussten Verlage verabschieden und sind uns ab und zu auch offline über den Weg gelaufen. Willkommen zu einem wenig umfassenden Szene-Rückblick. (Hab längst aufgegeben, da umfassend sein zu wollen, dafür bräuchte ich bessere Nerven. Und mehr Zeit.)

2021 steht vor der Zielgeraden und damit ist es wieder an der Zeit für jenen Teil der Monatsansichten, der das Nachsehen hat, weil er in die Jahresansichten integriert wird. Tja, armer Dezember. Aber dafür hat er die ganzen Feiertage und Silvester und besteht ohnehin zu 70 % aus Rückschauen …

Reihen wir uns also ein in diese 70 % und überlegen, was los war. Nicht insgesamt – ich habe versucht, einen persönlichen Rückblick aufs Jahr zu schreiben, aber wie schon 2020 bin ich daran gescheitert, die richtige Dosis zu finden. Begnügen wir uns also zunächst mit der Szene, das ist schon schwierig genug.

Augenbrauenhöhen

Denn nun, es wurde wieder viel diskutiert, heiß diskutiert, wild diskutiert. Manchmal so wild, dass es vielen an die Nerven ging. Die Diskussionskultur ist nicht wirklich am Arsch, im Gegenteil bewegt sie sich auf sehr lebendiger Augenbrauenhöhe, dabei aber nicht unbedingt auf Augenhöhe. Hm, diese Metapher wurde etwas ausufernder als geplant. Aber nun, was ich sagen will: Es gab oft Beef. Mal ging es um Karikaturen, mal um zweifelhafte Chefredakteure, außerdem wurden Organisationen wie das Tintenzirkel-Forum, verschiedene Awards oder zuletzt PAN und die MetropolCon für den Umgang mit einigen marginalisierten Gruppen kritisiert. Diese Diskussionen bekommen oft eine persönliche Note – nicht unbedingt in dem Sinne, dass Leute ständig persönlich beleidigt oder angegangen würden, wobei auch das zweifellos vorkommt. Aber die Leute, die sich in der Szene engagieren, tun dies in der Regel nicht des Geldes (lol) wegen, sondern aus Überzeugung, Herzblut, Idealismus, sonstigen persönlichen Gründen. Sie investieren (Frei-)Zeit und Geld in Magazine, Award- und Eventorganisation, Vereine usw., und für viele verschwimmen dabei Privatleben und Szene.[1] Umso persönlicher wird dann Kritik an den eigenen Projekten aufgefasst. Sollen andere es eben erst einmal besser machen. Diese Haltung ist für mich sehr nachvollziehbar, ich bin regelmäßig abgefuckt, wenn jemand meine Arbeit kritisiert – je emotional, normativ wichtiger und aufwändiger sie für mich ist, desto schlimmer. Aber nun, Selbstreflexion ist eine sexy Sache, und wir sollten sie uns bewahren. Wenn wir kritisiert werden ebenso wie wenn wir kritisieren.[2] Auch wenn es im ersten Moment oft nicht so leicht ist. [Bitte verstehen Sie diese kurzen Worte als Ergänzung zu sonstigem, was ich hierzu in vorangegangenen Monatsansichten von mir gegeben habe.][3] Den Zusatz „seid nett zueinander“ spare ich mir, er ist allzu naiv. Aber die Sache mit dem Abfackeln hilft in 90 % der Fälle nicht weiter, also …

Meme von böse grinsendem Mädchen mit brennendem Haus im Hintergrund. Vorne der Text "be kind to each other"

Auf leeren Gängen winken

Vielleicht ist die ganze Lage auch noch mal dadurch verschärft worden, dass wir primär aufeinandertreffen, wenn’s Stress auf Twitter gibt (und dann wieder in unsere Bubbles zurückkehren, um den Stress auszudiskutieren und die Wunden zu lecken).[4] Aber nun, ist jetzt nicht so, als hätte es keine Events gegeben! Online fanden verschiedene Cons und Messen statt, in guter Erinnerung habe ich etwa die hochkarätig bepanelte Buchmesse Saar oder den ungleich familiäreren BuCon. Aber auch offline konnte man sich wieder über den Weg laufen, beispielsweise bei den Wetzlarer Tagen der Phantastik oder der Frankfurter Buchmesse. Wobei ich auf der FBM wenigen Leuten über den Weg gelaufen bin, donnerstags war es echt leer (war gut so, tho).

Alte Schwerter, alte Bücher

Ein Themenkomplex, in dem ebenfalls heiß, aber nicht ganz so emotional diskutiert wurde, blieb auch 2021 der der Genres, Movements usw.[5] Recht beliebt war dabei die Urban Fantasy, die u. a. vom Phantast oder den Teilzeithelden frisch beleuchtet wurde. Aber auch die lange eher als altbacken belächelte Sword & Sorcery wurde mit vielen Artikeln, Podcast-Folgen usw. bedacht – wobei sie mir nicht in erster Linie durch neue Veröffentlichungen, sondern von einer gewissen Genre-Nostalgie zu profitieren scheint. Detailreich recherchierte Beiträge dazu gab es beispielsweise fast monatlich auf Skalpell und Katzenklaue – erst im Dezember ging es hier ausführlich um Charles R. Saunders und dessen Helden Imaro. Ansonsten rankte sich vieles um Conan, beispielsweise im März, im August oder im Oktober. Und auch außerhalb von Conan und anderen schwertschwingenden Guys hatte Nostalgie Hochkonjunktur, wobei es u. a. um alte Taschenbuchreihen, um Terry Pratchett, Coverkunst, neu verfilmte alte Reihen oder Patricia A. McKillip ging.

Auszug aus einem Graphen, der die Beziehungen von unterschiedlichen Subgenres der Fantasy zueinander aufzeigt
Mind in progress. (Dinge, die ich via Obsidian anlege, wenn ich eigentlich Romane schreiben sollte)

Sonne, geh auf

DAS Genre-Thema des Jahres war aber, und das deutete sich schon im letzten Jahresrückblick an, das der Utopien. Sie sollen’s richten, und unsere oder zumindest meine liebste Ausprägung des Jahres war der Solarpunk, zu dem es spätestens ab dem Frühjahr Artikel, Podcasts und Paneldiskussionen geregnet hat.

Für mich war die Beschäftigung mit ihm ein Stück weit Eskapismus, weil sie mich in die internationale Szene geführt hat. Auch in der wird heftigst diskutiert, aber ich stehe dabei interessiert am Rande und muss nicht ständig mich, meine Rolle oder gar meine Freundschaften hinterfragen – es ist sehr entspannend. Also habe ich eine Panel-Diskussion nach der anderen besucht und hach, was schien das schön! Da diskutierten Autor_innen aus Italien, Japan und Trinidad & Tobago Seite an Seite, Maker stellten ihre nachhaltigen Visionen vor und ich konnte live beobachten, wie sich das Movement immer weiter aus der Nische herausgearbeitet hat.

Und doch beobachte ich derzeit wieder lieber mit vorsichtiger Distanz. Ich bin kein allzu großer Fan des ReDes-Manifests, welches das aktuelle Movement stark beeinflusst. Der ursprünglich kosmopolitische Ansatz mit der Hoffnung auf glokale Lösungen scheint mir zuletzt ins Hintertreffen geraten zu sein gegenüber einer letztlich wieder stark von westlichen Ländern geprägten normativen Agenda. Wobei es eine Ironie ist, dass sich einerseits Antikapitalismus zur zentralen Idee mausert, während andererseits immer mehr Unternehmen das Buzzword für sich entdecken. Cyberpunk und Solarpunk, sie bleiben enge Verwandte, während beispielsweise im ursprünglich für die Entwicklung sehr zentralen südamerikanischen Raum neue Mikrogenres wie sertãopunk oder amazofuturismo an Bedeutung gewinnen, die dem Solarpunk teilweise eng verwandt sind, aber dennoch eigene Wege gehen.

Michael Jackson isst Popcorn, dazu "watching international panel discussions" als Text

Nun, es wird weiter spannend sein, zu beobachten, wohin sich das Ganze entwickelt. Ob Maker- und Kunstszene weiterhin auseinander driften oder wieder zueinander finden, und auch, inwiefern Solarpunk Teil der Hard SF bleibt oder sich in offenere Spielarten ausfächert. Gerade im deutschsprachigen Raum kommt das Thema ja gerade erst im Gros der Szene an – im Januar startet das u. a. auf Solarpunk spezialisierte Future Fiction-Magazin mit einer deutschsprachigen Ausgabe, aktuell läuft noch die „Sonnenseiten“-Ausschreibung der Münchner Schreiberlinge und auch die Digital-Start-Up-Szene hat den Begriff für sich (wieder-)entdeckt.

Where do we go to, my genrestuff?

Dennoch frage ich mich schon, wer der nächste Nachfolger wird. Gute Chancen hat aktuell Lunarpunk, die gegenwärtig prominenteste Ausfächerung des Solarpunk, die den durchschnittlichen Fantasyfan mit ihrer Gothic-Atmosphäre mehr zu catchen weiß. Auch der Ecopunk wird hier und da wiederentdeckt. Zwischendurch hatte ich dem eher am Steampunk orientierten Dreadpunk mal Chancen eingeräumt, aber er scheint mir wieder in der Versenkung verschwunden zu sein. News wird es auf jeden Fall zum Dreampunk geben, da bin ich mir beinahe sicher. Und so langsam bekommen die Punks halt auch echte Konkurrenz durch die „Cores“. Vielleicht bejammere ich im nächsten Jahresrückblick die antikosmopolitische Entwicklung des Apokalypsecore oder so, dunno.

Verlagslandschaften

Aber ehe wir ins nächste Jahr schauen, erst noch ein paar Worte zu diesem: Denn da war ja noch diese Pandemiesache und aufgrund dieser lief es auch für viele Verlage nicht richtig rund. Nicht alle haben es ins nächste Jahr geschafft (wobei nicht in allen Fällen Corona schuld ist): Neben dem Bookshouse Verlag hat nun auch noch Ulrich Burger die Tore geschlossen, während Ach je kurzfristig von Amrûn übernommen wurde. Fischer TOR wurde bereits im Mai verschlankt, was übrigens auch bedeutet, dass alle Artikel, die dort aktuell noch von mir erscheinen – zuletzt waren das ein Beitrag über Goblins und einer über Synergien zwischen Metal, Rock und Fantasyliteratur – schon ein paar Monate alt sind. Sage das nur, weil ich regelmäßig gefragt werde, warum die superaktuelle Veröffentlichung XYZ nicht in den Beiträgen auftaucht. Aber diese sind halt nicht tagesaktuell, und Veröffentlichung XYZ zum Zeitpunkt des Verfassens wahrscheinlich noch nicht veröffentlicht.[6]

Teilhabemöglichkeiten

Apropos aktuell: Derzeit laufen die Nominierungsrunden für den Kurd Laßwitz Preis und die ESFS Awards. Für den KLP können abstimmungsberechtige Personen (= Personen, die ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise mit SF bestreiten) bis Ende Januar Vorschläge bei Treuhänder Udo Klotz einreichen. Für die ESFS Awards werden Vorschläge an den SFCD via scifinet.org eingereicht – ob es darüber hinaus Alternativen zur Einreichung gibt, weiß ich nicht. Aber im Sinne des Abfackeln-hilft-auch-nicht-let’s-lieber-fetz sollte, wer kann und Nerv hat, Vorschläge einreichen.

Schuhsuche

Jo. Und dann schauen wir mal, was 2022 szenetechnisch so bringt. Übrigens wurden im Dezember auch die ersten Infos zum neuen Drachenlanze-Roman bekanntgegeben, den Weis und Hickman  … vehement eingefordert hatten. Je nach Tagesstimmung geht mir das am Hintern vorbei oder ich werde von einer plötzlichen Nostalgie-Welle gepackt. Story of my year quasi.

Gut, dann rutscht mal alle gut rüber. Und seid nett zueinander, ehehe. Ich gehe mal Schuhe suchen, die einen Weg durch den Waldmatsch überleben.


[1] Nun ja, das Verschwimmen von Privatleben und Szene macht die Szene halt auch erst zu sich selbst …  

[2] Man muss dazu sagen: Die Szene hat die wilden Diskussionen nicht für sich gepachtet, es ist generell eine streitglückliche Zeit. Aber ich bleibe bei meiner These, wo mehr Herzblut etc. pp.

[3] Wobei man mir nicht all meine Meinungen von 2016 noch als die von 2021 vorhalten sollte. Zu manchen Themen ändere ich meine Meinung wenigstens in Nuancen etwa 4x im Jahr. Das kann man als wankelmütig empfinden, aber eigentlich mag ich es ganz gerne, in wenigstens dieser Hinsicht flexibel zu sein. Auch wenn das seine Schattenseiten hat, weil ich vermutlich eine schlechte Verbündete bin und es sehr vermisse, von etwas restlos überzeugt zu sein. Hm.

[4] Das soll übrigens nicht heißen, dass alles einfacher ist, wenn wir nur mehr direkt miteinander reden. Mir ist klar, dass das auch Stimmen verstummen lassen würde. Aber aktuell bekommen wir weniger voneinander mit und leben stärker in den für uns angenehmen Welten.

[5] Obwohl ich berichten kann, dass sich Leute ganz erstaunlich auf den Schlips getreten fühlen können, wenn man ihr Lieblingsgenre nicht in der ~angemessenen~ Weise bespricht. Nun, ich übe mich ja weiter in Selbstreflexion und gehe davon aus, dass das die Leute, die mir vorwerfen, für solche Themen zu jung oder zu sehr mit den falschen Personen befreundet zu sein, ebenfalls gilt. Nur mal so aus Interesse – ich bin jetzt 32, wie alt muss ich denn werden, um offiziell über Cyberpunk sprechen zu dürfen?

[6] Apropos Selbstreflexion: Es gibt allerdings auch Fälle, in denen ich die superaktuelle Veröffentlichung schlicht übersehen habe. Oder nicht als ganz so relevant für den Text erachtet habe.