Septemberansichten 2021

Septemberansichten 2021

2. Oktober 2021 9 Von FragmentAnsichten

Die Wetzlarer Tage der Phantastik haben stattgefunden, Autorinnen schreiben Cyberpunk-Romane, der DSFP sorgte für Diskussionen, Vice entdeckt Solarpunk, Dune läuft im Kino etc. pp.

Wir haben einen ereignisreichen Monat hinter uns. Er war vollgepackt mit Streams, Diskussionspanels, Events, Podcasts, … Unmöglich, das alles aufzuzählen, daher werde ich mich dieses Mal (noch) stärker auf einzelne Punkte fokussieren.

Wetzlarer Tage der Phantastik

Unter den stattgefundenen Tagungen, Konferenzen und Conventions waren beispielsweise die Tagung der Gesellschaft für Fantastikforschung oder, sogar in Präsenz, die GermanComicCon und die Wetzlarer Tage der Phantastik. An letzteren, die dieses Jahr den Themenschwerpunkt „Deutschsprachige Science-Fiction-Autorinnen“ hatten, habe ich teilgenommen – allerdings erst ab Samstagmittag, wodurch mir ein paar Vorträge entgangen sind; darunter leider auch Theresa Hannigs Beitrag rund um die Wikipedia-Liste deutschsprachiger SF-Autorinnen, die im März 2019 einigen Wirbel verursacht hatte.

Die Wetzlarer Tage der Phantastik haben insgesamt einen literaturwissenschaftlichen Fokus, was wiederum mit sich bringt, dass eher jene Werke betrachtet werden, die … auch im Feuilleton eine Chance haben, sagen wir es mal so. Entsprechend gab es auch in diesem Jahr Vorstellungen von auf den ersten Blick genreuntypischen Autorinnen wie Emma Braslavsky oder Marlene Streeruwitz, deren Werke nichtsdestotrotz sehr spannend klingen. Ebenso interessant Thomas Recktenwalds Vortrag, dem man die Begeisterung für Eva Maria Mudrichs Hörspiele sichtlich angemerkt hat.

Für den Blick auf die aktuelle Genreliteratur sorgte abends eine Utopien-Lesung mit Werken von Maike Braun („In 80 Tagen eine neue Welt“) und Theresa Hannig („Pantopia“). Und von mir gab es einen Vortrag zu Cyberpunk-Autorinnen aus dem DACH-Raum.

Cyberpunk-Namedropping

Normalerweise stelle ich meine Vortragsfolien hinterher zur Verfügung, dieses Mal muss das leider ausfallen, da einer der Künstler die Lizenz, die mir die Nutzung ermöglicht hat, zurückgezogen hat. Und ohne die Bildchen bleiben halt ein Überblick zu Cyberpunk sowie Namedropping. Letzteres hole ich hier aber einer Bitte folgend nach. Dazu sei erwähnt, dass ich erstens Autorinnen (bzw. weiblich gelesene Schriftstellende) genannt habe, die aktiv unter dem Label des Cyberpunks vermarktet werden, zweitens aber auch solche, deren Werke (mal mehr, mal weniger auffällig) entsprechende Elemente beinhalten,[1] ohne explizit als Cyberpunk gehandelt zu werden. Die Liste ist damit sicher nicht vollständig. Inzwischen ist der Cyberpunk zumindest als Ästhetik so stark in unsere Alltagswelt und unser SF-Verständnis eingedrungen, dass es fast schwieriger geworden ist, SF-Werke (und vor allem Dystopien) ohne entsprechende Elemente aufzuzählen. Aber das Titel- und Namedropping soll zweierlei zeigen: (1) Vor allem in den letzten Jahren haben Autorinnen aus dem DACH-Raum einiges an Cyberpunkigem veröffentlicht. (2) Allerdings werden Werke manchmal unter Labels vermarktet, die sie einerseits attraktiver für die Zielgruppe der jeweiligen Autorin oder ihres Verlags, sie andererseits aber auch zum blinden Fleck für manchen Genre-Preis machen. Die Extrembeispiele sind hier Dorothe Zürchers als Fantasy-Romance vermarktete „Gamma-Lächeln“-Duologie sowie die „Pandora“-Bücher, die mit ihrer Aufmachung vermutlich die „Selection“-Zielgruppe bedienen sollten.

Hier nun die Auflistung:

  • Cyberpunk-Romane und -Reihen: „When The Music’s Over“ und „Downtown Blues“ von Myra Çakan, „Maschinenwahn“-Trilogie von Carmen Capiti, “Neon Birds”-Trilogie und “Der dunkle Schwarm“ von Marie Graßhoff, „Beyond“-Reihe von Andrea Bottlinger
  • Cyberpunk-Kurzgeschichten: u. a. Andrea Tillmanns (z. B. „Happy Birthday“), Iris Leonard („Neonnacht“), Heidrun Jänchen (z. B. in der Kurzgeschichten-Sammlung „Willkommen auf Aurora“)
  • Artverwandt beworbene Romane mit Cyberpunk-Anteilen: „Dystonia“-Reihe von Veronika Carver, „Shape Me“ von Melanie Vogltanz, „Utopia Gardens“-Reihe von Eva Siegmund, „Ace in Space“ von Judith Vogt (mit Christian Vogt), „Born“ von Kris Brynn, „Exit this City“ von Lisa-Marie Reuter
  • Virtual-/False-Reality-Romane: „Cyberworld“-Reihe von Nadine Erdmann, „Erebos“-Romane von Ursula Poznanski, „Spielende Götter“ von mir, „Euphoria City“ von Anika Beer
  • Romantasy-vermarktete Romane mit Cyberpunk-Anteilen: „Pandora“-Romane von Eva Siegmund, „Das Gamma-Lächeln“-Duologie von Dorothe Zürcher
  • Shadowrun-Romane von Maike Hallmann, Martina Nöth und Lara Möller

Ebenfalls um Cyberpunk-Autor*innen ging es im September übrigens bei einer Folge des Sprawl-Radios (Empfehlung ohne Gewähr, hab sie mir noch nicht angehört).

Das Autorinnen-Problem in der SF, Part 354

Mit dem Label-Dilemma sind wir schon beim nächsten Thema: Die beiden Gewinner des Deutschen Science Fiction Preises (DSFP) wurden bekanntgegeben, es handelt sich um Sven Haupt mit „Die Sprache der Blumen“ (Bester Roman) und um Carsten Schmitt mit „Wagners Stimme“ (Beste Kurzgeschichte, aus der Anthologie „Wie künstlich ist Intelligenz?“).

Wie üblich hat die Benennung zu Diskussionen darüber geführt, dass Autorinnen trotz dessen, dass auch sie inzwischen einiges an Science Fiction veröffentlichen[2], bei Awards unterrepräsentiert sind. Jedes Mal, wenn solche Diskussionen aufkommen, tut es mir erst mal leid für die Gewinner. Es ist halt ärgerlich, wenn man ausgezeichnet wird und das dann entsprechend überschattet wird. Trotzdem, und obwohl ich beiden Gewinnern den Preis herzlich gönne (im Falle von Haupt unbekannterweise, aber das Buch klingt sehr spannend), ist die Diskussion selbst wichtig. In den letzten Jahren hat sich zweifellos etwas getan, aber noch immer gibt es strukturelle Probleme verschiedener Art, die so ins Bewusstsein gerückt werden. Es geht dabei um Vorurteile gegenüber SF-schreibenden Autorinnen, daraus resultierende Berührungsängste und Marketingdilemmata, die wiederum dafür sorgen, dass SF von Autorinnen oft anders gelabelt und damit, wie oben schon erwähnt, nahezu unsichtbar für Genrepreise wird. Insofern finde ich es auch wichtig, dass man generell bei Phantastikpreisen mehr darauf achtet, welche Subgenres berücksichtigt werden oder welche eben nicht. Denn es ist ja erst mal gar kein Problem, wenn ein SF-Jugendroman für die Zielgruppe der Romance-Dystopien aufbereitet wird; das Problem besteht eher darin, dass solche Bücher dann quasi automatisch als Award-unwürdig abgetan bzw. einfach ignoriert werden. Hab gesehen, dass Alana Falk das in der Diskussion auf Twitter das ins Spiel gebracht hat, aber es ist ein Punkt, der einfach noch viel zu wenig Beachtung findet.

Gezeigt wird der Frauenanteil an deutschen SF-Preisen seit 1980. Er liegt unter 10 %. Den Kurd-Laßwitz-Preis für Besten Roman hat eine Frau gewonnen, den für Beste Erzählung 6 Frauen, den für die Kurzgeschichte eine Frau. Den Deutschen Science Fiction Preis konnten sowohl in der Kategorie "Roman" als auch "Kurzgeschichte" jeweils drei Frauen ihr Eigen nennen.
Norbert Fiks‘ Grafik, die den Frauenanteil bei SF-Preisen zeigt (Wenn sie verschwommen angezeigt werden sollte, einmal draufklicken …)

Those lovely bubbles

Darüber hinaus müssen sich die Leute stärker bewusstmachen, dass Genrepreise immer auch Bubblepreise sind. Egal, ob Bestenliste, DPP oder Kurd-Laßwitz-Preis und egal, ob Jury- oder Publikumsaward – letztlich entstammen all diese Auszeichnungen bestimmten Szenemilieus, in denen nicht alle Titel dieselben Chancen auf Berücksichtigung haben. Das wird sich auch nicht so schnell ändern, vielleicht muss es das auch gar nicht. Dennoch ist das kein Freischein, sich nicht um eine breite Szenerepräsentanz z. B. der Jurymitglieder zu bemühen. Richtigerweise wurde zwar angemerkt, dass es mitunter schwierig ist, Freiwillige für ehrenamtliche Jurytätigkeiten zu finden. Dass man als Jurymitglied immer mit drin hängt, wenn ein Preis Kritik abbekommt – und vor der ist quasi kein Award gefeit –, macht es sicher nicht einfacher. Aber wenn man z. B. wie beim SERAPH das Ganze mit etwas Sweets, also Publicity für die Mitglieder verbindet, bedeutet das schon mal einen Anreiz nach innen und zugleich Transparenz nach außen. An Letzterer mangelt es dem DSFP; bspw. hatte ich der (nicht ganz aktuell gehaltenen) Website entnommen, die Jurymitglieder sollten Mitglieder des Science Fiction Club Deutschland sein. Erst durch die Diskussionen habe ich mitbekommen, dass dem offenbar nicht so ist. Wenn man nach Freiwilligen sucht, ist sowas eher suboptimal …

Das wurde nun alles wieder etwas lang, vielleicht wäre ein eigener Beitrag – wie ihn z. B. SF-Lit veröffentlicht hat – sinnvoller gewesen, doch außerhalb der Monatsansichten fühlt mir aktuell dann doch der Drive, alle Kriegsschauplätze zu bearbeiten.[3] Aber apropos SF-Lit: Dort ist die Longlist für den SF-Lit Award 2021 erschienen und ich bin very happy, dass auch „Die Türme von Eden“ auf dieser vertreten ist. SF-Lit Award übrigens objektivster Genreaward, den wir haben, gell. Bei den hier nominierten Titeln könnt ihr bedenkenlos zugreifen, sie sind alle grandios.

Arabische Science Fiction

So, nun aber genug gecringt, wenden wir uns anderen Themen zu: Das Goetheinstitut lud zur Konferenz „Science meets Journalism“, in deren Rahmen auch eine Diskussionsrunde zu Arabischer Science Fiction angeboten wurde. Eine Zusammenfassung von deren Inhalten habe ich auf Goethe.de veröffentlicht. Wie im Text schon deutlich wird (hoffe ich zumindest), ging es im Panel aber vornehmlich um SF-Filme und hier auch vor allem um die aus Ägypten – obgleich immer wieder auf den arabischen Raum allgemein Bezug genommen wurde. Insgesamt dürfte die SF-Szene dort aber um einiges ausdifferenzierter sein, als es die Diskussion vermuten ließ. Beispielsweise habe ich mich etwas über die Aussage gewundert, es gebe keine Fanszenen mit Conventions oder Fanzines; immerhin hat sich Saudi-Arabien erst 2020 um den WorldCon 2022 beworben (wenn auch vergeblich). Einen tieferen Einblick in die arabische SF gab es 2019 vonseiten Nahrain al-Mousawis in der NZZ.

Installationskunst

Apropos Filme: Bekanntlich ist „Dune“ im Kino angelaufen und das Netz wird seither geflutet von Listicals, Podcasts, Videos usw., in denen die Bücher, der Film, die anderen Filme, die Frauenfiguren und diverser anderer Kram besprochen werden. Wollte mir paar Sachen anhören und durchlesen, aber … hab’s doch nicht gemacht. Dafür habe ich mir den Film am Wochenende selbst angeschaut und finde meine Meinung ganz gut in der Filmdienst-Kritik wieder. Völlig gepackt hat mich der Streifen nicht, aber die Bilder sind shiny und ich mag Installationskunst. Werde die Tage noch mal rein gehen, es ist einfach was für die große Leinwand … und daheim gucke ich meine Filme auf dem Laptop. Chancen müssen also genutzt werden. 😉

Mehr Science Fiction

Andere Formen der SF machten ebenfalls von sich reden.[4] Schließlich wäre Stanislaw Lem am 12. September 100 geworden, während Perry Rhodan am 8. September seinen 60. gefeiert hat. Und selbstverständlich können diese Ansichten nicht zu Ende gehen, ohne dass ich einmal Solarpunk erwähnt habe. Wobei ich ein bisschen frustriert darüber bin, dass auch Vice auf den „Solarpunk als Antikapitalismus“-Zug aufgesprungen ist. Dunno, wahrscheinlich bin ich Solarpunk-konservativ, weil ich immer wieder darauf herumreite, dass sich Kapitalismus und Solarpunk nicht ausschließen müssen. Anyway, finde den Artikel trotzdem gut, da er sich die Mühe macht, Geschichte und Inhalt des Solarpunk nicht auf ein paar Buzzwords zu reduzieren, sondern wirklich umfassend zu behandeln. Und nun, das Movement ist im Fluss … vielleicht ist es inzwischen tatsächlich an einem Punkt, an dem es nicht mehr in erster Linie kosmopolitisch, sondern antikapitalistisch eingestellt ist. Für alle, die nach Literatur suchen, die unter Solarpunk läuft, gibt’s übrigens noch eine neue Liste auf Tor.com.

Hilfe, mein Kleid wächst

Gut, reden wir noch etwas über einfachere Themen. Mode zum Beispiel. Auch das ein Bereich, der sich aus seiner Nische kämpft, und dabei keineswegs die Schnittpunkte zur SF negiert. Was das für die Zukunft bedeuten könnte, zeigt das sehr aktive und progressive Modehaus Auroboros, auf das ich im Zuge der Juliansichten schon mal kurz eingegangen war. Und was das für die Vergangenheit bedeutet hat, wurde wiederum auf Tor.com mit einem Beitrag zu „17 Iconic Fashion Moments in SFF History“ sichtbar.

Blogroll und Ausblick

Ansonsten gab es beispielsweise einen sehr interessanten Artikel von Lena Richter über kostenfreie Geschichten im Social-Media-Zeitalter; ist für einen eigenen Blogpost-Kommentar abgespeichert, mal schauen, ob ich dazu komme. Auf Dark Worlds Quaterly hingegen ging es um den Style der Sword & Sorcery, die gerade eine feine Renaissance erlebt. Dann gab Nobert Fiks auf seinem Blog noch ein Update zur geplanten Wiederbelebung der TERRA-Reihe im BLITZ-Verlag. Und die Berliner MetropolCon verkündete große Pläne für 2023.

Aber erst mal gibt’s für mich eine Runde Schlaf und für alle eine Ladung Oktober. Aktuell läuft bereits der fünfte virtuelle Literaturcon, am 23. Oktober folgt zudem die nächste digitale Ausgabe des BuchmesseCon. Ganz oder teilweise analog finden hingegen am 9. Oktober die SF-Veranstaltung „Hinterm Mond“ in Leer sowie vom 20. bis 24. Oktober die Frankfurter Buchmesse statt. Wenn alles glatt läuft, werde ich donnerstags auch in den Hallen anzutreffen sein. Ihr auch?


[1] Soweit ich das von Inhaltsangaben und/oder Leseproben her eruieren konnte. Ich hab nicht jedes der Werke gelesen.

[2] Nach einer Zählung von SF-Lit entfielen 22 % der 2020er-SF-Veröffentlichungen auf Autorinnen.

[3] Mochte eine Zeitlang die Löffelmetapher ganz gern, aber sie wird inzwischen bissl missverständlich und inflationär gebraucht. Heh, ich hatte schon keine Löffel, als keiner wusste, was ich damit meine.

[4] Das Schöne an der Abkürzung „SF“ ist ja, dass sie auch für Space Fantasy taugt.